Für Norbert Röttgen erweist sich die Apokalypse in Japan als Chance. Seine Doppelrolle birgt jedoch mehr als Restrisiken.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Ihm werden dieser Tage viele Fragen gestellt, auf die es bis jetzt keine schlüssigen Antworten gibt. Sein Job ist, solche Antworten zu finden oder zumindest so zu formulieren, dass die Antworten schlüssig klingen. Es ist ein harter Job - zurzeit der schwierigste im Bundeskabinett. Norbert Röttgen erledigt ihn mit Bravour. Gleichwohl gibt es Momente, in denen alles wie ausgeknipst wirkt, was ihn auszeichnet: die ruhige, abgeklärte Art, der souveräne Auftritt, die höflichen Umgangsformen.

 

Am Dienstagnachmittag ist solch ein Moment zu beobachten. Es ist Tag vier der Krise, die für Röttgen eine neue Chance bedeutet. Ein Journalist stellt eine jener Fragen zum wiederholten Male und beharrt auf einer Antwort, die Röttgen nicht zu geben vermag. Da wird der Minister unwirsch, entzieht dem Fragesteller brüsk das Wort. Für einen Augenblick wird sichtbar, welche Anspannung sich hinter der stets freundlichen, überlegenen Miene verbirgt.

Im Schatten der Apokalypse, die in Japan ihren Verlauf nimmt, erlebt Röttgen kleine Triumphe, die er sich allerdings nicht eingestehen darf. Sie bergen größere Risiken. Just an diesem Dienstag darf er verkünden, wovon er heimlich längst überzeugt war, nur hatte er monatelang das Gegenteil behaupten müssen: Die ältesten Atommeiler Deutschlands werden abgeschaltet.

Mappus hatte schon Entlassung von Röttgen empfohlen

Und am gleichen Tag noch, eine Ironie der Geschichte, erleidet die nordrhein-westfälische Landesregierung Schiffbruch mit ihrem Haushalt. Was kann Röttgen, dem Chef der größten Oppositionspartei, Besseres widerfahren? Röttgen sieht sich doppelt bestätigt, als atomkritischer Umweltminister und als CDU-Landesvorsitzender. In beiden Fällen handelt es sich freilich um fragile, zwiespältige Erfolge.

Der 46-jährige Christdemokrat hatte sich schon als Minister für Atomausstieg aufgeführt, als das in seiner Partei noch keineswegs opportun war - um es in vorsichtigster Form zu umschreiben. Schließlich verstand sich die Union bis zuletzt als Bollwerk gegen die Atomskepsis im Lande. Die schwarz-gelbe Regierung versprach in ihrem Koalitionsvertrag, das Atomzeitalter zu verlängern.

Kaum hatte Röttgen jedoch seine ersten 100 Tage in deren Diensten bewältigt, da begann er, laut darüber nachzudenken, ob es klug sei, dass die CDU "gerade die Kernenergie zu einem Alleinstellungsmerkmal machen will". Sein Ratschlag vor Jahresfrist lautete: "Wir sollten unsere Akzeptanz in der Bevölkerung nicht an einen störungsfreien Betrieb von Kernkraftwerken knüpfen." Mit solchen Weisheiten machte er sich viele Feinde unter den sogenannten Parteifreunden. Stefan Mappus, Ministerpräsident in Stuttgart und Vorsitzender des atomfreundlichsten CDU-Landesverbandes, empfahl der Kanzlerin gar, den von der Vision einer "green economy" beseelten Umweltminister zu entlassen.

Röttgen muss die massiven Vorbehalte in der Koalition ausräumen

Röttgen blieb Minister. Aber in der Atompolitik diktierten seine Widersacher den Kurs der Regierung. "Muttis Klügster", wie er einst genannt wurde, weil er die Gunst der Kanzlerin genoss und als christdemokratischer Vordenker brillierte - ihn schien die Fortune zu verlassen. Als Kronprinz der Union geriet er in den Schatten des famosen Karl-Theodor zu Guttenberg. Röttgens Konterpart im Kabinett, der liberale Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, düpierte den CDU-Mann zuletzt nach der Pleite mit dem Biosprit E10.

Nun ist Guttenberg Deutschlands jüngster Exminister - und nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima nichts mehr wie zuvor. Röttgen war der Erste aus der Regierung, der vor einem "politischen Tsunami" warnte und die erst im Herbst beschlossene Atomnovelle komplett infrage stellte. Noch am Samstag, als die Kanzlerin sehr vorsichtig über Konsequenzen nachzudenken begann, propagierte er eine neue Grundsatzdebatte über das atomare Restrisiko. Röttgens ketzerische Offensive leitete eine Kehrtwende in der Atompolitik ein.

Das nun vereinbarte Moratorium lässt sich für ihn nicht mit "Innehalten" übersetzen. Es bedeutet strapaziöses, riskantes Krisenmanagement. Er muss die Kurskorrektur exekutieren und die massiven Vorbehalte in der Koalition ausräumen, die mit den Explosionen in Fukushima nicht einfach weggeblasen wurden. Zudem dräut Ungemach an Röttgens Heimatfront: in seinem CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen. Dort bahnen sich Neuwahlen an. Der Minister wäre dann an Rhein und Ruhr als Wahlkämpfer gefragt, während er in Berlin den Rollback in Richtung eines beschleunigten Atomausstiegs zu organisieren hätte. Beide Rollen fordern den ganzen Mann. Und wäre es nicht ein Treppenwitz der Zeitgeschichte, wenn der Grünste unter den Schwarzen in Düsseldorf auf der Oppositionsbank landen würd

Der Aufsteiger

Umweltminister

Norbert Röttgen gehört seit Oktober 2009 dem Kabinett an. Im vergangenen Jahr setzte er sich im Machtkampf um den Chefposten des größten CDU-Landesverbandes, Nordrhein-Westfalen, durch und wurde danach auch zum stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden gewählt. Der Katholik aus dem Rheinland, 1965 in Meckenheim geboren und Vater dreier Kinder, ist von Hause aus Jurist. In seiner Partei zählte er zu Kohls Zeiten zu den "Jungen Wilden", die mit schwarz-grünen Bündnissen sympathisierten. Zu jener Runde gehörten auch Ronald Pofalla, der heute Chef des Kanzleramts ist, und Hermann Gröhe, inzwischen CDU-Generalsekretär.