Passend zur Aura der Popkünstlerin und ihren Heilserwartungen an eine bessere Zukunft kann man ihr neues, an diesem Freitag erscheinendes Album „Utopia“ auch mit Kryptowährung bezahlen. Aber Obacht: man erhält dann auch ein sehr kryptisches Album.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Die Sängerin Björk zählt gewiss zu den charismatischsten und ganz gewiss im buchstäblichen wie übertragenen Sinne zu den besonders schillernden Köpfen der zeitgenössischen Avantgardepopmusik. Außerordentlich verschrobene Musik hat sie aber längst nicht immer gemacht. „Human Behaviour“, „Venus as a Boy“ oder „Violently Happy“ von ihrem 1993 erschienenen Debütalbum „Debut“ sind so elegante wie eingängige Popnummern, auch die beiden nachfolgenden Werke „Post“ und „Homogenic“ von 1995 und 1997, die sich immerhin millionenfach verkauften, sind noch nah dran an dem massentauglichen Erfolgspop, den sie zuvor mit ihrer Band Sugarcubes sang. Erst zu Beginn dieses Jahrtausends, 2001 mit dem Album „Verspertine“, wandte sich die bekannteste Isländerin der Welt den wirklich avantgardistischen Formaten, ganz neuen Produktionsweisen und dem Gedanken zu, musikalisches und audiovisuelles Wirken als künstlerische Einheit zu begreifen.

 

Dieses musikalische Streben erreicht jetzt auf „Utopia“ seinen Höhepunkt, dem mittlerweile neunten Studioalbum von Björk, zwei künstlerisch irrelevante Frühwerke (ihr erstes Album veröffentlichte sie mit zwölf Jahren) außer Acht gelassen. Flötentöne eines von ihr selbst ins Leben gerufenen zwölfköpfigen Blasorchesters, Harfenglissandi, ein großer Chor namens – Achtung Zungenbrecher – Borgerour Ingolfsdottirs Hamrahlioarkorinn sowie vor allem viel Vogelgezwitscher und Grillengezirpe sind auf „Utopia“ als prägende musikalische Bestandteile zu hören. Dazu gesellen sich minimalistische elektronische Beats und karge Arrangements, die teils bis zur Superzeitlupe entschleunigt sind. Und das war es dann im Wesentlichen. Auf diesem Album dominiert die ruhige Gangart, muntere oder gar tanzbare Melodien finden sich in den um fünf Minuten Spieldauer pendelnden 14 Stücken überhaupt nicht. Andere traditionelle Instrumente der Unterhaltungsmusik ebenfalls nicht. Und irgendetwas, das man im engeren Sinne als Pop bezeichnen könnte? Eigentlich auch nicht.

Liebe in all ihren Facetten

Björk versucht sich in der Instrumentierung an einer Symbiose aus dem Natürlichen und dem Artifiziellen, die ihr zugegeben teils verblüffend gelingt – in jenen Passagen etwa, in denen man gar nicht mehr hört, ob hier jetzt noch ein Vogel tiriliert oder schon Kollege Computer übernommen hat. Eine organische Struktur fehlt dem Album jedoch gänzlich, von einem Konzeptwerk ist Björk sogar weit entfernt. „Utopia“ ist geprägt von skizzenhaftem Gestus, von experimentellen Anordnungen, von fragmentarischem Purismus . Wer Werk und Wirken der Musikerin kennt, der weiß, dass sie gewiss nicht zwanghaft nach Anspruch und künstlerischer Anerkennung durch möglichst verkopfte Konzeptionen ringt, sondern dass all ihr Schaffen eher Ausfluss ihrer sich scheinbar oft in Parallelwelten befindlichen Gedankengänge ist. Dennoch: einen überwölbenden musikalischen Sinn auf „Utopia“ zu erkennen, ist schwierig. Nicht zuletzt mag dies, neben Björks eigenen künstlerischen Wünschen, auch ein Verdienst des Produzenten Arca sein. Der Venezolaner, der schon für FKA Twigs, Frank Ocean und Kanye West gearbeitet hat, zeichnete bereits für Björks letztes Album „Vulnicura“ verantwortlich und hat diesmal auch fünf Stücke mitgeschrieben. Seinem bei anderer Gelegenheit selbstformulierten Anspruch, schwer zugängliche Musik produzieren zu wollen, ist er dabei vollumfänglich gerecht geworden.

Inhaltlich sieht die Sache hingegen freundlicher aus. „My healed Chest Wound/Transformed into a Gate/Where I receive love from“ singt Björk in der Singleauskoppelung „The Gate“ (ob dieser Siebenminüter allerdings seinen Weg in die Charts finden wird, wollen wir mal bezweifeln), die Liebe in allen ihren Facetten ist das große Leitmotiv nicht nur dieses Songs, sondern des gesamten Albums. Textlich gelingt der mittlerweile 52-Jährigen vieles sehr tiefschürfend, sehr lyrisch, von außerordentlichem Format, wenngleich man nicht von einem Sittengemälde unseres neuzeitlichen Lebens, sondern vielmehr einer nach außen gestülpten Innerlichkeit sprechen muss.

Festgottesdienst des Gesangs

Als einen Seitenhieb auf ihren Ex-Lebensgefährten, den Konzeptkünstler Matthew Barney, könnte man dieses Album vielleicht deuten, als eine Art Nachschlag gewissermaßen, denn schon das Vorgängeralbum „Vulnicura“ diente dem Zweck, die Trennung aufzuarbeiten. In dem Stück „Sue me“ thematisiert Björk den Streit mit ihm über das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter sogar derart explizit, dass sich schon fast die Frage stellt, wie öffentlich man das Private von einem Künstler eigentlich vorgeführt haben möchte. Einen weiteren Seitenhieb mag man schließlich in dem Stück „tabula rasa“ sehen: auf den dänischen Filmregisseur Lars von Trier, in dessen Film „Dancer in the Dark“ Björk die Hauptrolle spielte und dem sie jüngst im Zuge der Me-too-Debatte sexuelle Belästigungen vorgeworfen hat. Man mag allerdings auch eine Anspielung auf Arvo Pärts gleichnamige Komposition oder jenes ebenfalls so betitelte Album der Einstürzenden Neubauten sehen, und da wären wir dann dummerweise schon wieder bei der Frage, ob nicht womöglich der zeitgenössische estnische Komponist oder die deutsche Avantgardeband eine weitaus leichter zugängliche „tabula rasa“ hinterlassen haben als die isländische Songwriterin.

„Utopia“ ist unter den ohnehin teils sehr fordernden Alben der Isländerin das bis dato Nichtssagendste, es langt etwa künstlerisch trotz seiner sparsamen a-capella-geprägten Einspielung nicht an ihr ebenfalls vokal konzipiertes früheres Album „Medulla“ heran. Was als Rettungsanker bleibt, ist Björks nach wie vor einzigartige Singstimme. Gänzlich entrückt, von ätherischer Fragilität und doch schneidender Eindringlichkeit zeigt sich die isländische Sängerfee auch auf diesem Album wieder. Wenn überhaupt, dann darf „Utopia“ zumindest als Festgottesdienst des Gesangs gedeutet werden. Doch selbst diese Ausnahmequalität hat Björk bei früheren Gelegenheiten schon im Ausdruck weitaus dynamischer und in der Summe weitaus packender an den Tag gelegt.

Haken wir’s also ab und legen die Bitcoins besser für kommende futuristische Entwürfe zurück. Denn passend zur Aura der leidlich singulären Popkünstlerin und ihren Heilserwartungen an eine bessere Zukunft, kann man das an diesem Freitag erscheinende „Utopia“ auf Björks Wunsch hin auch mit Kryptowährung bezahlen. Aber Obacht: man erhält dann auch ein sehr kryptisches Album.Embassy of Music/Warner