Die regionale Wirtschaftsfördergesellschaft wirbt für die Internationale Bauaustellung mit einem Bild, das an ein Foto aus dem Jahr 1928 erinnert, auf dem eine junge Frau vor dem Le-Corbusier-Haus posiert. Doch wer ist die schöne Unbekannte?

Stuttgart - Das Mercedes-Classic-Archiv gehört zu den am besten ausgestatteten Einrichtungen seiner Art – und es gibt eigentlich nichts, was es nicht weiß, wenn es um die Marke mit dem Stern geht. Doch bei dieser Frage musste auch Manuel Müller von der Classic-Kommunikation passen: Wer denn die junge Frau sei, die auf dem Schwarz-Weiß-Foto aus dem Jahr 1928 mit einem schnittigen Mercedes-Sportwagen vor dem berühmten Le-Corbusier-Haus in der Weißenhofsiedlung posiere. „Weder zu der Dame noch zum Fotoshooting haben wir weitergehende Informationen gefunden“, sagte Müller. Das Fahrzeug auf dem Bild war hingegen rasch ermittelt: ein Typ 8/38 PS-Roadster, Höchstgeschwindigkeit: 75 km/h. Doch mittlerweile ist auch bekannt, wer die Frau ist.

 

Aber der Reihe nach. Hintergrund für die Anfrage war ein Bericht darüber, dass die regionale Wirtschaftsfördergesellschaft WRS für die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart mit einem modernen Remake dieses Fotos warb: Die WRS-Mitarbeiterin Vanessa Cafaro wurde mit dem Daimler-Zukunftsautomobil F 015 vor dem Le-Corbusier-Haus abgebildet – sozusagen die bildhafte Verbindung der geplanten IBA 2027 mit der berühmten Werkbundausstellung auf dem Weißenhof im Jahr 1927, zu deren Anlass Le Corbusier das Doppelhaus in der Rathenaustraße baute, das mittlerweile als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet ist.

Opernsängerin erkennt Urgroßtante

Gelüftet wurde das Rätsel um die unbekannte Schönen von Ann-Katrin Naido, einer in Stuttgart geborenen und mittlerweile in München lebenden Opernsängerin. Sie wandte sich per Mail an diese Zeitung. „Die Frau auf dem Bild ist meine Urgroßtante Elsbeth Böklen“, teilte sie mit, doch deren Tochter, die ebenfalls in der bayrischen Landeshauptstadt lebende Elisabeth Schneider-Böklen, wisse sicherlich mehr. Die Pfarrerin im Ehrenamt des evangelischen Dekanats München stammt auch aus dem Schwäbischen: 1945 in Reutlingen geboren, wuchs sie in Stuttgart auf, besuchte die Römerschule und das evangelische Mörikegymnasium, studierte in Tübingen, Berlin und Heidelberg, war Pfarrerin für Blinde in München und promovierte in Marburg über die Herrnhuter Liederdichterin Henriette Louise von Hayn.

Elisabeth Schneider-Böklen besitzt auch ein Bild, das aus der Fotoserie stammt, die nun durch die IBA-Werbung wieder ins Gespräch kam. Allerdings sitzt ihre Mutter, damals 23 Jahre alt, in dem Roadster; auf dem anderen, zur IBA-Werbung verwendeten, steht sie vor dem zweisitzigen Sportwagen und hat – durchaus attraktiv – ein Bein auf dem Trittbrett abgestellt.

Das Mercedes-Model lernte nie Autofahren

Elsbeth Böklen, berichtet ihre Tochter, lebte von 1905 bis 1984, sie machte nach dem Abitur eine Ausbildung in Ausdruckstanz bei der Mary-Wigman-Schülerin Edith Walcher an der Oper in Stuttgart, eröffnete später eine eigene Schule für Gymnastik und Tanz , die sie erst unter dem Druck der NS-Herrschaft und infolge des Krieges aufgeben musste, aber später in der Nachkriegszeit unter bescheidenen Bedingungen weiterführte. „Obwohl sie hier auf dem Bild als ‚moderne Frau’ mit kurzem Haar und am Steuer eines Autos vor dem Corbusier-Haus fotografiert ist, lernte sie nie Autofahren“, sagt Elisabeth Schneider-Böklen. Im Jahr 1940 hat ihre Mutter ihren Vater, Dr.-Ing. Rudolf Böklen geheiratet. Er war der Sohn des Architekten Professor Richard Böklen, Erbauer der Cannstatter Lutherkirche, und von Gertrud Finckh, der Schwester des Dichters Ludwig Finckh. „Dazu, wie es zu den Fotos kam, kann ich leider nichts weiteres beitragen“, sagt Schneider-Böklen. „Ich habe in Erinnerung, dass meine Mutter am Weißenhof Tennis spielte, vielleicht kam da der Kontakt zum Daimler-Werbefotografen zustande?“

Elisabeth Schneider-Böklen, seit dem Jahr 2010 im Ruhestand, hat eines der Fotos auch auf den Onlineseiten der StZ-Geschichtswerkstatt „Von Zeit zu Zeit“ hinterlegt. Sie will nun darüber hinaus einen Wikipedia-Artikel über ihre Mutter schreiben und die Fotos dort veröffentlichen, wofür sie auf die Erlaubnis von Daimler hofft. „Das wäre sicher ein guter Schritt, um das Geheimnis des Daimler-Models zu lüften und den Weißenhof weltweit mit einem klaren Bild bekannt zu machen", sagt sie. Doch es gehe ihr auch darum, „einer zwar international ikonographisch bekannten Frau Namen und Biographie zu geben.“ Die Frau im Mercedes vor dem Le-Corbusier-Haus hätte dann mehr als ein schönes Gesicht – sie hätte auch eine Geschichte.