Das Stuttgarter Dorotheen-Quartier zeigt, dass politischer Streit gut tun kann, meint unser Lokalchef Holger Gayer. Ohne die Intervention des Gemeinderats wäre der Gebäudekomplex zu groß geworden.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Wer eine Runde um das neue Luxusviertel in der Stuttgarter Innenstadt drehen will, sollte etwas Zeit mitbringen. Knapp acht Minuten brauchte ein Durchschnittsmann neulich, um das von Breuninger erbaute Dorotheen-Quartier nebst dem Stammhaus des Mode-Unternehmens in Schrittgeschwindigkeit zu umkreisen. Was der Mensch auf so einem Rundgang entdeckt, ist durchaus bemerkenswert: drei repräsentative Bauten mit einer Nutzfläche von knapp 40 000 Quadratmetern, die nach einer Bauzeit von dreieinhalb Jahren an diesem Dienstag ihre Pforten öffnen. 11 000 Quadratmeter gehören dem Handel und der Gastronomie. 28 000 Quadratmeter werden, vorzugsweise von Ministerien, als Büros genutzt. Zählt man die mehr als 40 000 Quadratmeter hinzu, die Breuninger ohnehin als Verkaufsfläche in seinem Stammhaus vorhält, ist zwischen Marktplatz, Hauptstätter Straße, Karlsplatz und Markthalle das größte Einkaufsensemble der Stadt entstanden. Es wird die City verändern.

 

Neue Läden, Bars und Restaurants dürften weiteres Publikum nach Stuttgart ziehen – sei es zum Einkaufen, wenn man einen größeren Geldbeutel zur Verfügung hat, oder zumindest zum Bummeln, wenn man sich auf das Sehen beschränken muss. Ein Kristallisationspunkt wie die Galeries Lafayette könnte das Dorotheen-Quartier im Idealfall werden – bescheidener natürlich als das Original in Paris, aber mit dem Potenzial, eine wesentliche Attraktion der Innenstadt zu werden.

Eine breite Koalition hat für das Hotel Silber gekämpft

Auch in politischer Hinsicht markiert die Eröffnung des Dorotheen-Quartiers eine Zäsur. Als der damalige Breuninger-Chef Willem van Agtmael vor zehn Jahren seine Pläne für das seinerzeit nach Leonardo da Vinci benannte Vorhaben präsentierte, hatte das Projekt das Zeug, ein weiterer Ausweis für die besondere Form von schwäbischem Klüngel zu werden, die in den Neunziger und Nuller Jahren oft praktiziert wurde: Ein mächtiger Investor erklärt einem politischen Granden, in diesem Fall dem Ministerpräsidenten Günther Oettinger, was gut für die Landeshauptstadt sei – und dann wird das so gemacht. Auf ähnliche Weise hatten zuvor schon andere Großprojekte ihren Anfang genommen, Stuttgart 21 oder das Milaneo, um nur die zwei prominentesten zu nennen.

Beim Dorotheen-Quartier lief die Geschichte anders. Eine breite Koalition verhinderte, dass die Neubauten zu mächtig wurden. Die Stadträte setzten durch, dass die Markthalle, eine Ikone der Stadt, nicht von den neuen Gebäuden erdrückt wird. In quälenden Runden mit dem Bauherrn kappten sie die Nutzfläche des Ensembles. Und vor allem verhinderten sie im Chor mit engagierten Bürgern, dass Stuttgart erneut einen Frevel an seiner Geschichte begeht. Das Hotel Silber, einst die Gestapo-Zentrale, wurde nicht, wie vom Investor geplant, abgerissen. Stattdessen entsteht dort eine Gedenkstätte, die daran erinnern soll, was nie wieder geschehen darf: Gräueltaten im Namen einer sogenannten Herrenrasse.

Der Streit als Vorbild für die Debatte um die autofreie Innenstadt

All das zeigt, wie bedeutend die Rolle von streitbaren, demokratischen Politikern ist. Beim Dorotheen-Quartier hat der Gemeinderat tatsächlich im Sinne des berühmten Wortes des Propheten Jeremia gehandelt: Suche der Stadt Bestes. Dass dieses Beste am Ende auch im Sinne der Investoren und Planer ist, hat der Architekt Stefan Behnisch bereits vor zwei Jahren erkannt. Bei der Grundsteinlegung des Dorotheen-Quartiers gab er jedenfalls zu, dass „man oft zu besseren Lösungen kommt, wenn man eine Idee fortentwickelt“.

Exakt diese Streitkultur wünscht man Politikern, Geschäftsleuten und Bürgern jetzt wieder, wenn darüber diskutiert wird, wo in der Stuttgarter Innenstadt eigentlich noch Autos fahren dürfen – oder müssen. Man wird im Rathaus darüber reden – und gerne auch in einer der schönen neuen Bars im Dorotheen-Quartier.