„Brüssel will an unser Trinkwasser“, heißt es. In deutschen Städten gehen kurz vor der Entscheidung über die EU-Trinkwasserverordnung die Emotionen hoch, und der französische Kommissar versteht die Welt nicht mehr. Die Geschichte eines Missverständnisses.

Brüssel - Karlsruhe sitzt gleich auf dem Trockenen. Unter gewaltigem Getöse schließt sich die Hauptleitung, die das Pumpwerk im Rheinwald mit der Innenstadt 15 Kilometer weiter nördlich verbindet. Immer schneller und lauter fließt das Wasser, das aus 17 Tiefbrunnen gefördert und dann gefiltert wird, durch das sich automatisch verengende Riesenrohr. Auf einen Schlag ist es still, und aus Matthias Maiers lautlosen Mundbewegungen werden hörbare Sätze. Als Erstes beruhigt der Betriebsleiter, dass trotz der nun möglichen Plauderei in der Stadt weiterhin Wasser aus den Hähnen kommt. Es dauert Stunden, bis der Hochbehälter ohne Nachschub leerläuft – keine Gefahr also für die Trinkwasserversorgung.

 

Heute zumindest, für die Zukunft sehen die Stadtwerke schwarz. Das Schreckgespenst der Liberalisierung geht um, nicht nur im Badischen. Wie mehr als hundert Gemeinderäte in der Bundesrepublik hat auch der in Karlsruhe eine „Resolution gegen die Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung“ verabschiedet. „Wasser ist ein Stück weit Voraussetzung für Zivilisation und sozialen Frieden“, sagt Oberbürgermeister Frank Mentrup und deutet damit an, dass diese Dinge in Gefahr sind. Das Versorgungsunternehmen der Stadt hat deshalb die europäische Bürgerinitiative „right2water“ unterzeichnet, die schon rund 1,5 Millionen Unterstützer gefunden hat – allein 1,3 Millionen in Deutschland.

Auslöser der Angst ist eine neue EU-Richtlinie, die in den kommenden Tagen abschließend verhandelt wird. Zum ersten Mal wird darin geregelt, wie die öffentliche Hand Konzessionen ausschreiben muss. Solche Verträge schließen Städte oder Gemeinden mit Unternehmen, die am Ort dann den Energiebedarf, den Nahverkehr, die Müllentsorgung oder eben die Wasserversorgung organisieren. Das Ziel ist, die Vetternwirtschaft zu bekämpfen, die es bei Vergaben ohne Ausschreibung oft gibt – und mehr Marktwirtschaft. Auch in Deutschland gibt es leise Stimmen, die fragen, warum hier der höchste Wasserpreis gezahlt wird . Es dominiert jedoch die Sorge, Stadtwerke oder kommunale Zweckverbände könnten bei einer verpflichtenden EU-weiten Vergabe gegen Multis und Billiganbieter den Kürzeren ziehen.

„Trinkwasser ist ein Lebensmittel“

Das billigste ist das „Karlsruher Trinkwasser“ nicht. Es steht flaschenweise auf dem Tisch in der Zentrale der Stadtwerke und ist nicht nur abgefüllt worden, um zu zeigen, wie sauber und gut es ist. In den Flaschen steckt eine Botschaft: Abgesehen davon, dass es anders als beim Strom rein physikalisch nicht so einfach ist, soll auch kein Wasser von irgendwo anders herfließen – selbst wenn es kostengünstiger wäre. „Trinkwasser ist ein Lebensmittel und kein Handelsgut im klassischen Sinne“, sagt Geschäftsführer Karl Roth, der über ein Leitungsnetz von knapp 1000 Kilometern Länge mit einem Wasserverlust von nur fünf Prozent wacht. „Unsere Vorväter haben in die Anlagen investiert“, sagt Roth. Er spricht von einem „Generationenvertrag“.

Als Faustregel gilt, dass jedes Jahr ein Prozent des Leitungsnetzes ausgetauscht wird. Die Runderneuerung dauert somit hundert Jahre – Meter für Meter kostet rund 500 Euro. „Wer darauf verzichtet, kann viel Geld aus dem System pressen, weil der Schaden später entsteht.“ Für Anbieter von außen, die bei einem Ausschreibungsverfahren der Stadt mitbieten könnten, wenn die aktuelle Konzession ausläuft, ist das interessant. „Da gäbe es genügend, die sich bewerben würden“, meint Roth: „Da müsste dann der Wirtschaftlichste den Zuschlag bekommen.“

Um zu demonstrieren, was sich dadurch ändern würde, führt Matthias Maier seinen Besucher in einen Nebenraum des Wasserwerks. Ein großer Dieselgenerator steht dort, der bei einem Stromausfall anspringt und die Wasserversorgung sicherstellt. Das Notaggregat ist schon 35 Jahre alt und soll für teures Geld ersetzt werden. Geld, das sie sich in Karlsruhe leisten wollen, um die Versorgungssicherheit oder den Umweltschutz zu gewährleisten. 100 000 Euro etwa hat es gekostet, damit Hubschrauber über das Wasserschutzgebiet rund um ihre Brunnen fliegen und Kalk abwerfen, der Schadstoffe bindet. „Wenn ich spitz rechnen muss, dann mache ich so etwas nicht“, lautet Maiers Plädoyer für lokale Strukturen, die weniger den Profit und stärker die Menschen vor Ort im Blick haben.

Es ist von hier nur ein kurzer Fußmarsch zum Rhein, hinter dem alles ganz anders ist. Wohl gibt es in Frankreich den ein oder anderen lokalen Wasserbetrieb. „Die meisten hängen aber direkt an den großen Konzernen wie Veolia oder GdF Suez“, sagt Matthias Maier, den Blick hinüber zum westlichen Nachbarn gerichtet, „diese Art von Nähe suchen wir nicht.“

„Wasser ist ein öffentliches Gut“

So nah wie selten ist an diesem Tag auch der Franzose, der die gewachsenen Strukturen angeblich auf dem Altar des Marktliberalismus opfern will. EU-Kommissar Michel Barnier, der den Gesetzesvorschlag für die Konzessionsrichtlinie Ende 2011 vorlegte, hat Termine im Straßburger Europaparlament. Vor dem Plenarsaal nimmt er sich Zeit, um über Wasser zu reden.

Der 62-Jährige fühlt sich grob missverstanden. „Ich komme aus den Savoyen. Wie sollte ich da nicht um Kraft und Bedeutung des Wassers wissen?“ Barnier, der die Winterspiele 1992 in seiner Heimatstadt Albertville organisierte, kämpft mit dem Vorwurf, er sei der Büttel französischer Multis. „Wasser ist ein öffentliches Gut“, betont Barnier: „Es gibt keine Zwangsprivatisierung. Die Richtlinie stellt klar, dass sich die Kommunen auch künftig so organisieren können, wie sie wollen.“

Wo liegt dann das Problem? Handelt es sich nur um einen Sturm im Wasserglas? Vor allem geht es darum, dass in Deutschland vieles anders ist als im Rest Europas.

Der Wasserturm ist 47 Meter hoch. Von oben bietet sich ein spektakulärer Blick auf das Reich der Rottweiler Stadtwerke, das in der Sonne glänzt. Es regnet überhaupt seltener als auf der Westseite des Schwarzwalds. Weil der Boden noch dazu karstig ist, gibt es wenig Grundwasser – weshalb sich die Gemeinden zu Zweckverbänden zusammengeschlossen haben und auch vom Bodensee Wasser beziehen müssen. Technikchef Holger Hüneke erzählt, die Vorläufer der EnBW hätten einst Leitungsnetze in der Gegend besessen und diese im Zuge der Stromliberalisierung der Neunziger gegen eine Minderheitsbeteiligung bei den Rottweilern eingetauscht. Seither ist ein Großkonzern mit im Boot. 20 Prozent sind es, wie in Karlsruhe.

In Brüssel tritt die Endphase der Verhandlungen ein

Die Worte Zweckverband und Stadtwerke kann der Franzose Barnier fehlerfrei aussprechen. „Diese besonderen deutschen Strukturen habe ich schon in meiner Zeit als EU-Regionalkommissar kennengelernt“, erzählt Michel Barnier. Stadtwerke wie in Rottweil und Karlsruhe sind zwar teilprivatisiert und damit theoretisch Marktteilnehmer – dies vor allem bei Strom und Gas und nicht unbedingt beim Wasser. Trotzdem ist sein erster Gesetzentwurf „zu allgemein“ ausgefallen, wie er heute einräumt. Inzwischen hat Barnier nachgebessert: „Ich habe die Kritik gehört und reagiert. Wir in der EU-Kommission wissen ja nicht alles besser.“

In Brüssel geht es nun in die Endphase der Verhandlungen zwischen Barniers Leuten, den Mitgliedstaaten und dem Europaparlament. Bis Anfang nächster Woche, so der Plan der irischen Ratspräsidentschaft, will man sich einigen. Auf dem Tisch liegt eine getrennte Berechnung nach Sparten: Mischt ein Stadtwerk fleißig auf dem liberalisierten Strommarkt mit, muss das ja noch nicht heißen, dass es auch beim Wasser wie ein Privater handelt. Nun soll es so sein, dass eine Stadt ohne Ausschreibung eine Wasserkonzession auf ihr Stadtwerk übertragen kann, wenn dieses vor allem vor Ort tätig ist – und höchstens 20 Prozent des Umsatzes jenseits der Stadtgrenze erwirtschaftet.

In Karlsruhe sitzt Peter Simon mit am Tisch. Der SPD-Europaabgeordnete hat selbst für die Stadt Mannheim gearbeitet und kennt die kommunalen Nöte. Er hat seine Unterschrift unter die Bürgerinitiative gesetzt und Anträge eingebracht, um das Wasser vom Geltungsbereich des Gesetzes auszuklammern. Simon weiß aber auch, dass in anderen Ländern viele froh sind über die Richtlinie, die die Vergabe transparent und Mauscheleien schwerer macht. „Mit diesem Kompromiss“, sagt Peter Simon im Hinblick auf die Stadtwerke, „ist die Welt für die meisten in Ordnung.“

Seine Gegenüber bleiben skeptisch, obwohl sie 92 Prozent ihres Umsatzes beim Wasser in Karlsruhe erwirtschaften und nach dieser Logik ungeschoren davonkämen – einzig eine getrennte Buchführung wäre nötig. Geschäftsführer Roth sieht weiter „die Gefahr, dass wir unter die Richtlinie fallen und die Trinkwasserversorgung leidet“. Denn es steht Aussage gegen Aussage: Während Kommissar Barnier „nur noch wenige Stadtwerke betroffen“ sieht, rechnet der Branchenverband mit rund 250. „Das sind fast ein Drittel aller Stadtwerke“, sagt Hans-Joachim Reck vom Verband kommunaler Unternehmen: „Vor allem ist auch unklar, inwieweit kommunale Zweckverbände von der Regelung betroffen sind.“

Der Blick vom Wasserturm, der den Druck in den Leitungen erzeugt, bald aber von modernen Pumpen abgelöst und verkauft werden soll, reicht weit das Neckartal hinauf. Hüneke zeigt Richtung Denkingen und Spaichingen, die von Rottweil mitbetreut werden. Es ist dieses Engagement außerhalb des Stadtgebiets, weshalb Rottweil immer noch betroffen sein könnte.

Es wird Zeit für eine Umstrukturierung

Die Empörungswelle hat längst die Kanzlerin erreicht. Auf dem Städtetag versprach Angela Merkel kürzlich den versammelten Oberbürgermeistern, sich für ihre Sache einzusetzen. Sie vergaß jedoch zu erwähnen, dass ihr Wirtschaftsminister Philipp Rösler der Richtlinie am 11. Dezember im EU-Ministerrat zugestimmt hat – noch ohne Barniers Nachbesserungen. Derselbe Rösler forderte dieser Tage in einem Interview, „Brüssel muss den Kommunen entgegenkommen“. Politische Pirouetten wie diese hinterlassen Beteiligte wie Peter Simon fassungslos: „Mir ist noch kein Verfahren begegnet, in dem so viel gelogen und so großer Blödsinn geredet wird.“

Um mehr Ehrlichkeit bemühen sie sich bei der Bürgerinitiative „right2water“. Mathias Ladstätter von Verdi erzählt, dass sie schon 2007 von Europas Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes angestoßen wurde und ursprünglich nichts mit der nun so umstrittenen Richtlinie zu tun hatte. Grundsätzlich wird die EU aufgefordert, den Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen in Europa und der Welt zu fördern. Die zweite Hauptforderung, Wasser nicht den üblichen Binnenmarktregeln zu unterwerfen, machte sie zur erfolgreichsten EU-Bürgerinitiative bisher. Und trotzdem sagt auch Ladstätter: „Aus der EU-Richtlinie ergibt sich kein Zwang zur Privatisierung – wohl aber ein Zwang zur Umstrukturierung.“

Der Neckar schlängelt sich tief unter der Rottweiler Altstadt direkt am Hauptgebäude der Stadtwerke entlang. Von der Leitzentrale aus werden sieben Hochbehälter, das Rohrnetz und die Quellen überwacht, die gerade kräftig sprudeln. Auch der Fluss, auf den Christoph Ranzinger schaut, führt viel Wasser. Um die Beschaulichkeit der Szenerie zu genießen, fehlt dem Geschäftsführer aber derzeit möglicherweise die Muße – er muss Gegenstrategien entwickeln.

Im schlimmsten Fall müssten nicht die Rottweiler „Konzernwasser“ trinken, sondern die Stadtwerke umorganisiert werden. Die einfachste Möglichkeit wäre, sich wieder rein kommunal zu organisieren und der EnBW ihren Anteil abzukaufen. Das aber kostet Geld – auch für Gutachter und Juristen. Und eigentlich will man auf das Knowhow des Konzerns nicht verzichten. Bei einer Aufspaltung wiederum gingen alle Synergien mit dem Energiebereich verloren – nicht umsonst gibt es den Gas- und Wasserinstallateur. Christoph Ranzinger will eigentlich jede Art von Umstrukturierung vermeiden. „Unser Plan B ist es, die nächste Konzession einfach für lange Zeit anzuschließen“, sagt der Geschäftsführer, „bevor die EU-Richtlinie in Kraft tritt.“