Der Stuttgarter Joachim Nitsch ist ein gefragter Energieexperte – er hat schon die Bundes- und Landesregierung bei der Strategie zum Ausbau der erneuerbaren Energien beraten. Stuttgart sieht er bisher in keiner guten Position.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Joachim Nitsch hat einmal den Beruf des Luft- und Raumfahrttechnikers gelernt, aber eines tut er ganz sicher nicht: hinter dem Mond leben. Im Gegenteil, er hat für mehrere Bundesregierungen die Leitstudien zur Ausbaustrategie der erneuerbaren Energien erstellt und ist mit seinem Wissen über die Energiewende den meisten um Galaxien voraus. Auch für das Land hat der gefragte Experte 2012, wiewohl seit acht Jahren in Rente, ein „Integriertes Energie- und Klimaschutzkonzept“ erarbeitet. Und was sagt er zu Stuttgart?

 

OB Fritz Kuhn (Grüne) hat angekündigt, bis zum Jahresende ein Energiekonzept vorzulegen (die StZ berichtete) – endlich, sagen nicht wenige. Für Joachim Nitsch stehen die Ecksäulen einer lokalen Energiewende dagegen schon fest: Bei einem Experten-Workshop hat er sie skizziert, übrigens im Beisein von Kuhn. Die Ausgangssituation, sagt Nitsch ganz klar, sei ungünstig: „In Stuttgart war das Thema Energie nie Chefsache. Dafür haben wir doch die EnBW, meinten viele.“ So sei der Anteil grünen Stroms, der in Stuttgart erzeugt werde, sehr gering. Auch das Potenzial der Nahwärme sei bisher nur marginal genutzt worden. Wer also in Stuttgart die Landesziele – bis 2020 rund 25 Prozent weniger Kohlendioxid sowie einen Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch in Höhe von 36 Prozent – erreichen wolle, der müsse sich sputen.

Der Schlüssel für die Energiewende liegt in der Wärme

Dabei setzt Joachim Nitsch, der sich seit 40 Jahren mit dem Thema beschäftigt, lange Zeit als Leiter des Bereichs Energiesystemanalyse am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Stuttgart, gar nicht so sehr auf grüne Stromerzeugung. Denn Windräder und Biogasanlagen könnten in einer Großstadt nur schwierig errichtet werden. Nur beim Bau von Fotovoltaikanlagen müsse mehr geschehen. Insgesamt sollte der Anteil des in Stuttgart erzeugten grünen Stroms bis 2022 von 1,5 auf 3,5 Prozent erhöht werden; daneben sei ein neues Gas- und Dampfkraftwerk sinnvoll. Und natürlich müsse man Strom sparen – fünf Prozent bis 2022 seien das Ziel, so Nitsch.

Sein Hauptaugenmerk gilt aber dem weithin unterschätzten Wärmebereich, wo knapp die Hälfte des CO2 entstehe. Erstens müssten in Stuttgart deutlich mehr Häuser gedämmt werden, damit 20 Prozent weniger Wärme benötigt wird. Zweitens müssten dreimal so viele Solarkollektoren wie heute auf Stuttgarts Dächern installiert sein. Drittens müssten die Stadtwerke für private Haushalte sogenannte Contracting-Angebote machen, damit alte Heizungen schneller getauscht werden.

Keine grundlegende Kritik an der EnBW

Der Schlüssel im Wärmebereich liegt für Joachim Nitsch aber in der Nah- und Fernwärme. Zum einen müssten in Stuttgart deutlich mehr Blockheizkraftwerke gebaut werden, die Mehrfamilienhäuser oder ganze Quartiere mit Strom und mit Wärme versorgen. Allerdings, räumt Nitsch ein, seien diese Minikraftwerke derzeit nicht sehr attraktiv, da Strom mit hohem CO2-Ausstoß an der Börse zu günstig gehandelt werde: „Dieses Problem muss man angehen, sonst läuft die Energiewende gegen die Wand.“ Interessant ist, dass Joachim Nitsch gerade die Stadtwerke Schwäbisch Hall als Vorbild lobt, da diese schon mehr als 30 solcher Kraftwerke betreiben – Schwäbisch Hall ist gemeinsam mit den EWS Schönau ein Bewerber um das Strom- und Gasnetz in Stuttgart.

Zum anderen hält Joachim Nitsch das Fernwärmenetz, das bislang der EnBW gehört, für ein zentrales Element der Stuttgarter Energiewende. Die Stadt soll es, so der Ratschlag Nitschs, selbst übernehmen, mit kleinen neuen Nahwärmenetzen verbinden und auf lange Sicht sogar die dazugehörenden Kraftwerke der EnBW erwerben. Im Moment ist allerdings strittig, ob die EnBW das Fernwärmenetz überhaupt herausgeben muss. Nitsch ist im Übrigen niemand, der die EnBW per se ablehnt. Sie habe bei der Fernwärme zu wenig für die Privathaushalte getan, sagt er. Aber es wäre kein Weltuntergang, wenn die EnBW bei den Konzessionen als Partner der Stadtwerke Stuttgart zum Zug käme, sofern die Stadtwerke bald die Mehrheit hätten.

Stadtwerke Stuttgart müssten Koordinator werden

Als eines der wichtigsten Elemente des Stuttgarter Energiekonzeptes sieht der 73-jährige Nitsch einen Wärmeleitplan, den Stuttgart erarbeiten müsse: Für das ganze Stadtgebiet müsse man ersehen können, in welchem Quartier sich ein Blockheizkraftwerk lohne und in welchem Quartier man eher die Dämmung der Gebäude fördern sollte. Die Stadtwerke Stuttgart sieht Nitsch dabei als Koordinator; sie könnten den Überblick behalten, die Prioritäten festlegen und mit vielen Projekten möglichst schnell starten. Eines jedenfalls ist für Joachim Nitsch klar: „Es ist für Stuttgart höchste Zeit einzusteigen.“ Sonst hinkt die Stadt bald Lichtjahre hinterher. Dann läge irgendwann Stuttgart hinterm Mond, zumindest im Energiebereich.