Mnache seiner Probleme hätte man gerne. Die Tagebücher der Jahre 1979 bis 1981 zeigen den Schriftsteller Martin Walser zwischen Erfolgen und Ermattung.

Stuttgart - Plötzlich ist der Mensch in seinen Fünfzigern, einiges ist erreicht, doch die Welt verliert an Farbe, die Widrigkeiten häufen sich: „Am Zoll. Es begann mit den Impfpapieren der Tiere. Beide abgelaufen. Machen Sie mal hinten auf. Haben Sie Fleisch dabei? Der Ton verriet, wir waren aufgefallen.“

 

So hebt der unterdessen vierte Band der Tagebücher von Martin Walser an. Es ist der 1. Januar 1979. Und als das Jahr 1981 in seinen letzten Zügen liegt, scheint die Lage keine lichtere. „Alles ist allen zu schwer. Alle sind allen zuviel“, schreibt der zwei Monate zuvor mit dem Büchnerpreis ausgezeichnete Schriftsteller und vom Sorgenstolz auf die Töchter geplagte Familienvater kurz vor Weihnachten, und: „Als Tier würde ich jetzt eingehen.“ Was aus der Zwischenzeit seinen Weg in diesen Band gefunden hat, füllt immerhin 650 Seiten.

Äußerer Erfolg und innere Verzagtheit

Zum Aufschlussreichsten an dieser oft erhellenden, ja erheiternden, zuweilen die Leserkondition fordernden Lektüre zählt die zum Vorschein kommende Diskrepanz zwischen äußeren, nicht nur beruflichen Erfolgen und innerlichen Verzagtheiten und Verdüsterungen. Auf der Habenseite finden sich etwa die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ und der Roman „Seelenarbeit“, die mit Hunderttausender-Auflagen Bestseller- wie Bestenlisten beherrschen. Walser ist auf dem Weg zum Großschriftsteller weit vorangekommen: Vor dem Büchnerpreis trifft 1980 der kleinere baden-württembergische Bruder ein, der Schillerpreis. Er wird von literarischen Institutionen in den USA wie in der DDR sowie vom wenig begeisternden Bundeskanzler Helmut Schmidt eingeladen und nutzt die Freiheiten des Vortrags- und Lesereisenden für die eine oder andere Affäre. Währenddessen werden die unterschiedlichen künstlerischen Begabungen der Töchter sichtbar und tragen Früchte.

Sogar mit Marcel Reich-Ranicki, dem Kritiker, der 1976 „Jenseits der Liebe“ vernichtet und zwei Jahre drauf „Ein fliehendes Pferd“ über den Schellenkönig gelobt hatte, sind nun vertrauliche Telefonate möglich. (Obwohl den ja der „dürre Sterbende“ Walter Jens „zum Freund dressiert“ hatte.) Einerseits. Andererseits schreibt derselbe Mann in sein Tagebuch grimme Aphorismen, wie man sie später in den „Meßmer“-Sammlungen wiederfindet: „Komisch, mit einem Kugelschreiber in der Hand dem Untergang zuzusehen.“

Die Grüner-Helden sind müde

Manche dieser Probleme hätte man allerdings ganz gern: „Herr Zürn, was tun Sie? Früher sind Sie Mädchen nachgerannt, jetzt kaufen Sie mehr Tische, als Sie brauchen. Nichts war so überflüssig wie diese Tischkäufe. Je schwächer dein Dasein, desto stärkere Dosen brauchst du, um dich zu spüren. Käufe sind solche Dosen. Sie wirken ein paar Stunden. Auch ein 5000-DM-Kauf wirkt nicht viel länger als 4–7 Stunden. Ich hätte besser für die daheim etwas zum Anziehen gekauft für 250 DM, das hätte auch 2–3 Stunden gewirkt. Also eine relativ viel stärkere Wirkung als der 5000-DM-Kauf mit seiner 4–7-Stunden-Wirkung.“ Wobei sich zeigt, wie im Notat die Grenzen zwischen Autor und Geschöpf, Leben und Roman verschwimmen.

Die Untergangsstimmung hat Gründe jenseits von Midlife-Crisis und berufstypischer Morbidezza des Manns am Schreibtisch, jenseits auch des Zeitgeists, da der Kalte Krieg sich aufs Bleiben eingerichtet zu haben scheint. Die Gesamtlage spiegelt sich in der Verfasstheit des Suhrkamp Verlags. Die Gründer-Helden sind müde. Was zwei Jahrzehnte zuvor als Projekt eines hoffnungsvollen Häufleins intellektueller Kraftsechser um Siegfried Unseld angefangen hat, ist gezeichnet vom Verfall seiner Protagonisten. Die alten Dominanzrituale bei Tennis und Schach werden weiterhin zelebriert, von Nacktbaden während gemeinsamer Sylt-Urlaube ist aber nicht mehr die Rede. Max Frischs Verbindungen mit immer jüngeren Frauen, Uwe Johnsons alkoholbefeuerte Paranoia, Enzensbergers Posen und die grauenhafte Ehe-Agonie von Unseld und seiner ersten Frau Hilde („der Untergang des Hauses Unseld“), die Zickigkeiten der anderen führenden Suhrkamp-Autoren Handke und Bernhard: alles schmeckt nach Ermattung.

Pandämonium des deutschen Geisteslebens

Und die großen ideologischen Schlachten der siebziger Jahre haben Wunden geschlagen, unter deren Schorf es schwärt. Walser, der eben noch als Kommunist Verschriene, der bereits jetzt die deutsche Teilung bedauert, findet sich immer mal zwischen Stühlen wieder. Auch in einer großen, ganz großartigen Szene wie dem Fünfzigsten von Jürgen Habermas scheinen die Anlässe von Misstrauen und Missvergnügen für den Tagebuchschreiber vorherrschend. Der notiert (was, wer Martin Walser gelegentlich erlebt hat, kaum glauben möchte): „Ich komme mir unpassend vor und besiegt, einfach weil ich so etwas nicht mitmachen kann.“

Aber hinschreiben kann er’s, dieses Pandämonium des deutschen Geisteslebens, mit den sehr alten Gershom Scholem und Herbert Marcuse, dem nicht nur fürsorglichen Reinhard Baumgart, dem empfindlichen Peter Hamm, dem „eitlen“ Joachim Kaiser, all den Repräsentanten des Geisteslebens der Republik und ihren sonnengebräunten Begleiterinnen. Schreiben bleibt Überlebensnotwendigkeit: „Ich würde vielleicht gern nicht weiterleben, wenn das Schreiben wirklich beendet wäre.“ Und Schreiben ist die Möglichkeit, sich selbst zu begegnen, ein fundamentales Korrektiv: „Um zu sehen, dass das, was man denkt, nicht das ist, was man denken will, muss man es aufschreiben.“

Wenn die Sprache zu sich kommt

Walser-Leser – und für solche sind die Tagebücher ja vor allem von Interesse – können das Voranschreiten der entstehenden Arbeiten beobachten, neben dem „Schwanenhaus“ und „Brief an Lord Liszt“ die Ironie-Vorlesung und das Eckermann-Stück „In Goethes Hand“. Man staunt, wie früh und immer wieder viele Themen und Motive umspielt werden. Klar, dass der Aufenthalt als Gastdozent am Dartmouth College in New Hampshire viel Material für den sechs Jahre darauf erscheinenden Campus-Roman „Brandung“ liefert. Aber selbst die Sprach-Theologie der drei Jahrzehnte später vollendeten Romane „Muttersohn“ und „Das dreizehnte Kapitel“ wird bereits formuliert: „Gott ist wahrscheinlich das reinste Wort, das es gibt. Die pure Wortwirklichkeit. Das vollkommene Sprachwesen. Das Sprachliche schlechthin. In Gott kommt die Sprache zu sich selbst.“

Letztlich geht es in diesen Aufzeichnungen also nicht vorrangig um den Betrieb und seine kleinen und großen Kabalen, die Reflexion der eigenen Rolle darin und flamboyanten Klatsch (wie etwa in den Tagebüchern von Fritz J. Raddatz), sondern um „Schreiben und Leben“, wie dieser jüngste Band jetzt, den Titel der zuvor erschienenen drei Bände „Leben und Schreiben“ umkehrend, heißt. Weiterhin gilt, was Walser im Nachwort zu „Leben und Schreiben 2“ formuliert hat: „Schreiben als Lebensart, das gibt es nur im Tagebuch.“

Eine Ahnung davon, wie die Sprache zu sich selbst kommt, geben die eingestreuten lyrischen Skizzen der äußeren und inneren Natur. „Im Schnee mit Tannen und Wind,/ das hohe Gebrause, es möchte ein Märchen/ beginnen, ich kann nicht folgen,/ ich verstehe nichts, ich wäre lieber/ einer, der etwas davon hat.“ So endet das Jahr, es endet das Tagebuch. Was damit, allen Unkenrufen zum Trotz, noch lange nicht endet, ist Martin Walsers Schreiben und Leben.

Martin Walser: Schreiben und Leben. Tagebücher 1979–1981. Anmerkungen zusammengestellt von Jörg Magenau. 672 Seiten, 26,95 Euro. Der Autor ist am 16. September im Literaturhaus Stuttgart zu Gast.