Stuttgart ist im Umbruch und im Aufbruch. Da kommt das Buch „Stress and the City“ des Berliner Psychiaters Mazda Adli vielleicht gerade recht.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Hatte er das Buch schon gelesen? Jedenfalls war es der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der sich bei einer Veranstaltung der Initiative Aufbruch Stuttgart im Hospitalhof für einen Städtebau aussprach, der seine Rolle als Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung stets ernsthaft reflektieren müsse. Man könne, meinte Kuhn, deshalb sehr wohl mit der Planung, keinesfalls aber mit der Realisierung einer Kulturmeile (und des weiteren mit einem Konzertsaalneubau) beginnen, so lange Stuttgart 21 nicht nahezu fertig sei. Das gebe nichts als Stress und sei dem sozialen Gefüge nicht zuzumuten.

 

Dass die Stadt einen krank machen kann, ist eine zentrale These im gerade erschienenen Buch des Berliner Psychiaters und Psychotherapeuten Mazda Adli, der den Forschungsbereich Affektive Störungen an der Charité leitet, also Stress- und Depressionsforschung betreibt. Wichtiger als der Titel „Stress and the City“ sind die beiden Untertitel: „Warum uns Städte krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind“. Anders als der amerikanische Ökonom Richard Florida, der erst die hemmungslose Gentrifizierung gepredigt hat („Cities and the Creative Class“), um neuerdings (in „The New Urban Crisis“) wieder von den angeblichen Molochen der Ungleichheit abzurücken, hat Adli eine ruhige, aber bestimmte Sicht auf die Entwicklung von Städten, nicht nur auf die des „dauerpubertierenden“ Berlin.

Anfälliger für Depressionen

Das liegt zum einen daran, dass der Autor, Jahrgang 1969, als Sohn einer iranischen Diplomatenfamilie in Köln geboren, ordentlich herumgekommen ist. In seiner Geburtsstadt hat er dabei nach eigenen Angaben gelernt, „offen und kommunikativ“ zu sein, und in Bonn, „dass auch kleine Städte ein Miniaturabbild der Welt sein können“. Teheran hat ihn Gegensätzlichkeit gelehrt, San Francisco die amerikanische Großstadtvision, Wien den „kulturellen Herzschlag“ spüren lassen und Berlin, dass Deutschland durchaus ein „mediterranes Draußenland“ sein kann.

Die Welt, daran gibt es keinen Zweifel, wird durchurbanisiert. Bis 2050, sagen die Vereinten Nationen, werden 70 Prozent der Erdbewohner in Städten leben, und es geht da nicht mehr so zu, wie zu Theodor Lessings Zeiten. Adli zitiert, wovon sich der Philosoph 1908 zutiefst abgestoßen fühlte: „Hämmer dröhnen, Maschinen rasseln. Nun kündet die Hupe ein Automobil.“ Lessing lebte in Hannover und gründete den Deutschen Lärmschutzverband. Es ging ihm, das hebt Adli hervor, um sich und seinesgleichen, „lärmgeplagte Intellektuelle“. Fabrikarbeiter und andere kamen in dieser Welt nicht vor.

Das ist nun ganz und gar nicht Adliss Perspektive und die seiner interdisziplinären Forschungsgruppe Neuro-Urbanistik. Zwar empfindet er den öffentlichen Raum schon als eine Art „urbanes Ballett“, möchte die Raumgestaltung aber weniger an ästhetischen Fragen ausrichten, sondern mehr als ständige Verhandlungssache betrachten. Konkret empfiehlt Adli eine „möglichst flexible Nutzung von öffentlichen Räumen“, je funktionsspezifischer ein Ort sei, desto stressreicher werde er. Schädlich für die Gemeinschaft als Ganzes sei vor allem der soziale Stress, der entstehe, wenn Menschen sich nicht mehr eingeladen fühlen, am Leben in der Öffentlichkeit teilzunehmen. Ohnehin ist der lebenslange Städter, wie Adliss Forschungen ergeben haben, anfälliger für Depressionen, Angststörungen und sogar Schizophrenie, als der Landbewohner. Das aber wiederum nur, wenn der Dörfler auch wirklich zur Gemeinschaft dazugehört und nicht, wie mancher aus der Stadt flüchtende Mensch, sein Dasein dort draußen sozial gleichgültig bis parasitär einrichtet.

Ohne Kooperation kein Miteinander

Ohne zu leugnen, dass Stadtleben ständig angewandte Konfliktbewältigung bedeutet, orientiert sich Adli an den Überzeugungen des amerikanischen Soziologen Richard Sennett, der in vielen seiner Arbeiten zur „offenen Stadt“ betont hat, dass es ihm nicht um Stressfreiheit gehe. Stressfreiheit mache „in erster Linie einsam, weil sie den Menschen keine Aufgaben mehr stellt. Und ohne Aufgaben gibt es keine Kooperation und ohne Kooperation kein soziales Miteinander.“

Adliss diskussionsfreudiges Buch, klug gespickt mit Interviews, in denen Städteplaner, Mediziner und Bürgermeister zu Wort kommen (darunter der von Bogota, der den Fahrradweganteil von Null auf sechs Prozent im Straßennetz hochgetrieben hat), hält zwischendurch auch ein Interview mit dem in Stuttgart geborenen Architekten und Künstler Jürgen Mayer H bereit, der zuletzt mit seinem Berliner Büro und einer raffinierten Holzkonstruktion der Altstadt von Sevilla neue Urbanität im 21. Jahrhundert erschlossen hat: der multifunktionale Platz ist zum neuen Identifikationsort geworden. Auch für Mayer ist die Qualität des öffentlichen Raums auschlaggebend, vor allem aber flexibler (und bezahlbarer) Wohnraum, der auf sich verändernde Lebenssituationen Rücksicht nehmen kann. Man lernt aus diesem Gespräch, wie aus Adliss Buch insgesamt, dass Städte krank werden können, was auf ihre Bewohner abfärbt. Aber auch: gesunden.