Drei Jahre lang hat die Verwaltung am Leitfaden für Bürgerbeteiligung gearbeitet. Im Herbst soll die Regelung in Kraft treten. Die Hürden für Partizipationsverfahren wurden nochmals gesenkt.

Stuttgart - Politik und Verwaltung im Rathaus wollen künftig die Bürgerschaft besser in kommunalpolitische Entscheidungen einbeziehen und dafür klare Regeln setzen. Diesem Ziel dient der Leitfaden für Bürgerbeteiligung, den der Gemeinderat im Herbst abschließend beraten wird. Tatsächlich aber ist der Rahmen für die Mitwirkung engagierter Bürger eng gesteckt – alle Entscheidungen bleiben letztlich dem Oberbürgermeister und dem Gemeinderat vorbehalten. Ob das die Bürger zum Mitmachen animiert?

 

„Experten des Alltags“ – so bezeichnet man im Rathaus diejenigen, die bei der Planung von Projekten in ihrem direkten Umfeld Wissen und Kenntnisse beisteuern können, die für die Verwaltung oder die Projektplaner hilfreich sein können. Bereits heute gibt es viele gesetzlich verankerte Mitbestimmungsformen für die Bürger, die sogenannte formelle Bürgerbeteiligung. Sie umfasst etwa Einwohnerversammlungen in den Stadtbezirken, bei denen der Oberbürgermeister und diverse Bürgermeister mit den Bürgern über Belange des Bezirks diskutieren, aber auch Bürgerbegehren oder Bürgerentscheide. Letztere müssen aber auch juristisch wasserdicht vorbereitet sein, wie zahlreiche vom Gemeinderat und von den Gerichten abgelehnte Bürgerentscheide aus den vergangenen Jahren gezeigt haben.

Mehr Rechtfertigungsdruck für die Politik

Im Unterschied dazu sind sogenannte informelle Bürgerbeteiligungen nicht gesetzlich vorgeschrieben. Sie werden von der Stadt freiwillig durchgeführt. Jüngstes Beispiel: das Partizipationsverfahren für das sogenannte Rosensteinviertel, das von der Stadt mit großem Aufwand initiiert wurde. Doch das durchaus beachtliche Anfangsinteresse der Bürger ist erlahmt, seit der Zeit- und Kostenplan der Bahn für das Projekt Stuttgart 21 ins Wanken geraten und damit der Bau des neuen Quartiers in weite Ferne gerückt ist. Der noch amtierende Verwaltungsbürgermeister Werner Wölfle (Grüne) hält den neuen Leitfaden gleichwohl für eine runde Sache. Einerseits werde den Bürgern von vornherein reiner Wein über die Grenzen der Beteiligung eingeschenkt, andererseits seien Verwaltung und Politik gezwungen, etwaige von den Ergebnissen der Bürgerbeteiligung abweichende Entscheidungen auch zu begründen und zu rechtfertigen.

Laut Wölfle wird zurzeit eine Liste der kommunalen Zukunftsprojekte erstellt, die sich für ein Bürgerbeteiligungsverfahren eignen. Nach Gesprächen mit Verbänden und Bürgern hat die Stadt auch die Anforderungskriterien für die Einleitung eines Verfahrens entschärft. Im ursprünglichen Entwurf der Leitlinien war vorgesehen, dass ein Beteiligungsverfahren aus der Bürgerschaft heraus erst dann initiiert werden kann, wenn dafür 2500 Unterschriften gesammelt wurden. In der überarbeiteten Version sind nun neben dem Rat und dem Oberbürgermeister auch Bezirksbeiräte und der Jugendrat als Antragsberechtigte aufgeführt. Wölfle: „Wenn es im Stadtbezirk ein Thema gibt, das die Leute umtreibt, dann wird der Bezirksbeirat sicher davon Gebrauch machen.

Fraunhofer-Institut entwickelt neue Formen der Projektdarstellung

Spannend dürfte es bei Themen wie etwa der hohen Feinstaubbelastung in der Stuttgarter Innenstadt werden, die stadtbezirksübergreifend ein Problem für die Anwohner darstellt. So könnten Bürger mit oder ohne Unterstützung der Bezirksbeiräte eine Anhörung durchsetzen, bei der es zum Beispiel um aktuelle Informationen bezüglich der diskutierten städtischen Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung geht. Fahrverbote oder Verkehrsbeschränkungen freilich sind auf diesem Weg nicht durchsetzbar – dafür sind Gerichte und in letzter Instanz die EU-Kommission zuständig. Gleichwohl könnten sich auf diesem Weg Betroffene artikulieren und die verantwortlichen Stellen unter Zugzwang setzen.

Dem Vernehmen nach zeichnet sich im Gemeinderat eine breite Mehrheit für die neuen Regeln ab, zumal die Kommunalpolitiker nicht befürchten müssen, in ihren Entscheidungsrechten beschnitten zu werden. Hilfestellung verspricht ein neues Verfahren zur Visualisierung komplexer Projekte, das zurzeit vom Fraunhoferinstitut gemeinsam mit dem Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider entwickelt wird. „Visualisierungen können helfen, indem sie Bauvorhaben anschaulich machen. Und sie helfen dabei, Varianten zu diskutieren“, so Brettschneider in einem dpa-Interview. Ob schöne 3D-Darstellungen die Bürger animieren, in Scharen zur Bürgerbeteiligung zu strömen, daran sind freilich – siehe das Beispiel Rosensteinviertel – Zweifel angebracht.