Der Türkei-Konflikt und Präsident Erdogans Ausweitung der Säuberungen auf die Unternehmenswelt gefährdet auch das Miteinander in Südwestfirmen, kommentiert Anne Guhlich.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Stuttgart - Es ist noch gar nicht so lange her, da galt Baden-Württemberg vielen als ein Vorbild für gelebte Integration – auch jenseits der Landesgrenzen. Als friedlich und pragmatisch hat beispielsweise die Zeitung „The New York Times“ Stuttgart im Oktober beschrieben. Als einen Ort, an dem nicht nur überdurchschnittlich viele Menschen mit ausländischen Wurzeln leben, sondern an dem auch deren Integration besonders gut klappt.

 

Eine große Rolle spielt dabei auch die starke baden-württembergische Wirtschaft. Die Megakonzerne wie Bosch, Daimler, Porsche, aber auch die Mittelständler im Südwesten sind auf die Fachkräfte aus aller Welt angewiesen. Moderne Unternehmen, bei denen Vielfalt in der Belegschaft als ein Wettbewerbsvorteil gilt, vermitteln ihren Beschäftigten einen Teamgeist, wie er in Fußballmannschaften gilt: Es kommt nicht darauf an, woher du kommst. Es kommt darauf an, was du kannst. Die Menschen mit ausländischen Wurzeln gründen im Südwesten außerdem überdurchschnittlich viele eigene Betriebe – und schaffen so selbst neue Arbeitsplätze.

Die Idylle bekommt immer mehr Risse

So weit, so romantisch. Doch die Idylle bekommt in letzter Zeit immer mehr Risse. Zuletzt dadurch, dass die Auseinandersetzung zwischen Erdogan-Anhängern und seinen Gegnern in der Türkei auch nach Baden-Württemberg und somit in die Südwest-Wirtschaft getragen wird. Plötzlich reden in den Unternehmen die Anhänger unterschiedlicher Gruppierungen nicht mehr miteinander. Plötzlich landen Firmen auf Boykottlisten, weil sie angeblich der Gülen-Bewegung nahestehen – selbst, wenn sie absolut nichts mit dem Prediger zu tun haben. Plötzlich verbreiten sich im Netz Aufrufe, andere Menschen zu denunzieren – selbst, wenn das an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte erinnert. Plötzlich wird ein Keil in genau jene türkische Community in Baden-Württemberg getrieben, die zuvor als Vorbild funktionierender Integration galt.

Politiker, Unternehmen, Betriebsräte und Verbände lassen sich derzeit nur schwer zu Stellungnahmen bewegen. Das ist verständlich: Sie wollen kein Öl ins Feuer gießen, wollen nicht, dass die Entwicklung weiter an Dynamik gewinnt. Doch Probleme lösen sich nicht auf, indem man sie einfach totschweigt.

Gülen- und Erdogan-Anhänger benutzen bei ihrer Auseinandersetzung die gleichen Argumente: Sie kritisieren die Gegenseite für ihre Demokratiefeindlichkeit. Es wird Zeit zu erkennen: Hier wächst ein Problem heran, das nicht nur den Betriebsfrieden in baden-württembergischen Betrieben gefährdet. Und es wird Zeit klarzustellen: Für die Deutungsprobleme der Krawallmacher bei der Frage, was demokratiefeindlich ist und was nicht, kann es hierzulande nur eine Interpretationshilfe geben: die Verfassung dieses Landes.