Neutrinos durchdringen praktisch alle Materie. Inzwischen weiß man, dass sie über eine winzige Masse verfügen. Aber wie winzig ist sie genau? Das wollen Physiker in Karlsruhe herausfinden – und benötigen dafür ganz großes Gerät.

Stuttgart - Guido Drexlin ist guter Dinge an diesem Septembertag. Und er hat allen Grund dazu. Denn endlich hat der Physiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) alle Bauteile zusammen für ein Experiment, an dem er seit zehn Jahren arbeitet. „Einiges hat länger gedauert“, sagt er. „Aber wir hatten auf allen Linien Erfolg.“ Vieles mussten er und seine Kollegen selbst entwickeln, weil auch spezialisierte Firmen es nicht anboten. Ihr Projekt nennen sie Katrin. Der Name steht für Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment.

 

Drexlin und seine Kollegen wollen das Neutrino wiegen, das Elementarteilchen, das von allen am schwersten zu wiegen ist. Lange Zeit waren sich die Physiker nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Ruhemasse auf die Waage bringt. Inzwischen ist sicher: Es hat eine Masse. Aber die ist winzig klein. Um das Winzige zu bestimmen, brauchen die Karlsruher ein gigantisches Messgerät. Anfang September lieferte ein Schwertransporter das letzte Bauteil an, 25 Tonnen, 16 Meter lang und vier Meter hoch.

Das Gerät, Tritiumquelle genannt, wird in den nächsten Wochen und Monaten an die zentrale Komponente montiert, das sogenannte Hauptspektrometer. Dieses steht schon seit neun Jahren im KIT, ein Zylinder von 24 Meter Länge und zehn Meter Durchmesser. 2006 wurde der zehn Meter hohe Koloss unter großer Anteilnahme der Bevölkerung durch ein Wohngebiet von Leopoldshafen bugsiert. Seitdem wird er für vorbereitende Messungen genutzt.

Antworten auf ungeklärte kosmologische Fragen

Das Projekt Katrin ist weltweit einmalig, denn die technischen Anforderungen für eine Bestimmung der Ruhemasse des Neutrinos sind enorm. Die Karlsruher bringen eine wichtige Voraussetzung mit: Sie haben ein Tritiumlabor und damit die Ausstattung und Genehmigung, mit Tritium zu hantieren, einer radioaktiven Variante (Isotop) des Wasserstoffs. Und dieses Tritium bietet eine Chance, der Masse des Neutrinos auf die Spur zu kommen.

Neutrinos sind in Messapparaturen so gut wie nicht zu fassen, denn sie sind, wie der Name nahelegt, elektrisch neutral und reagieren zudem nicht auf die starken Kräfte in einem Atomkern. Das heißt: Neutrinos fliegen durch den Menschen, durch die Sonne, durch die Weiten des Universums einfach hindurch. Billiarden Neutrinos verlassen jede Sekunde jeden Quadratzentimeter der Sonnenoberfläche. Die meisten durchdringen die Erde, als sei diese ein offenes Fenster. Nur eine Handvoll bleibt irgendwo stecken, vielleicht in einem der Neutrino-Detektoren auf der Erde.

Denn die flüchtigen Geisterteilchen erreichen die Messapparaturen auf der Erde auch aus Regionen des Weltalls, in die Teleskope nicht schauen können. Das macht sie für Astronomen interessant. Zudem zeichnet sich ab, dass die drei verschiedenen bekannten Neutrinoarten – hinzu kommt je ein Antineutrino – Antworten auf einige ungeklärte Fragen der Physik des Kosmos wie auch der Welt der Atome geben könnten. Wenn sie eine Ruhemasse haben, könnten sie einen Teil der Dunklen Materie darstellen, deren Natur bisher unbekannt ist, die aber rund 27 Prozent aller Materie des Weltalls ausmacht.

Die Detektoren sind riesig

Aber haben sie eine Masse? Nein, sagt das Standardmodell, in dem die Physiker die Welt der Elementarteilchen beschreiben. Ja, sagen neuere Ergebnisse der Neutrinoforschung. Denn die drei Neutrinoarten können sich ineinander umwandeln. Verlässt etwa ein Elektron-Neutrino die Sonne, kann es auf der Erde als Myon- oder Tau-Neutrino ankommen. Das ist nur erklärbar, wenn Neutrinos eine Masse haben. Katrin soll mehr Klarheit verschaffen.

Kein Wunder, dass Neutrinos in den letzten Jahren ins Zentrum des Interesses der Physiker gerückt sind. „Die Neutrinoforschung hat in den letzten Jahren einen neuen Impuls bekommen“, sagt Drexlin. „Wir haben viel gelernt.“ So sind zum Beispiel Tübinger Forscher dabei, ein „Kepler-Center für Astro- und Teilchenphysik“ aufzubauen, in dem sie unter vielem Anderen die Frage beantworten wollen, ob das Neutrino kurioserweise sein eigenes Antiteilchen ist. Im Eis der Antarktis registrieren gewaltige Detektoren wie der einen Kubik-Kilometer große Icecube Neutrinos aus den Tiefen des Alls. Das europäische Forschungszentrum Cern in Genf interessiert sich genauso für Neutrinos wie das italienische Labor tief unten in einem Bergwerk unter dem Gran Sasso im Apennin, der Kamiokande in Japan, Minos in den USA und weitere aufwendige Projekte weltweit.

Was macht Neutrinos interessant?

Nachgewiesen wurden Neutrinos 1955, doch ihre Entdeckung geht in die 1920er Jahre zurück. Wenn radioaktive Atome zerfallen, kann man den sogenannten Betazerfall beobachten, den es in zwei Varianten gibt. Beim Beta-Minus-Zerfall, der unter anderem beim Tritium vorkommt, wandelt sich ein Neutron im Atomkern zu einem positiv geladenen Proton. Ein negativ geladenes Elektron fliegt aus dem Kern davon, außerdem, wie man heute weiß, das Antiteilchen eines Elektron-Neutrinos.

Bevor Neutrinos bekannt waren, blieb der Betazerfall rätselhaft. Auf jedem Billardtisch fliegen die Kugeln nach einem Stoß entsprechend den strengen physikalischen Regeln der Erhaltung von Energie und Impuls auseinander. Das war beim Betazerfall scheinbar anders. Es fehlte Energie in der Bilanz der wegfliegenden Elektronen. 1930 schlug der spätere Nobelpreisträger Wolfgang Pauli vor, da müsse wohl noch ein weiteres Teilchen wegfliegen. Er nannte seinen Vorschlag einen „verzweifelten Ausweg“, denn er bemerkte selbst, dass dieses Teilchen mit den ihm bekannten Instrumenten wohl nie nachgewiesen werden konnte. Der Italiener Enrico Fermi nannte das Teilchen später Neutrino.

Das Neutrino hat eine weitere seltsame Eigenschaft, von der sich Guido Drexlin und seine Kollegen Antworten auf die Fragen zur bisher ungeklärten Natur der Dunklen Materie erhoffen. Ein Teil dieser Dunklen Materie könnte aus einer besonderen Art von Neutrinos bestehen, vermutet Drexlin, den sogenannten sterilen Neutrinos, die noch niemand beobachtet hat, über die aber Katrin näheres herausfinden könnte. „Wir suchen exklusiv auch nach sterilen Neutrinos“, sagt Drexlin.

Eine Schlüsselstellung in der Physik

Neutrinos verletzen eine Regel, die in der Natur normalerweise gilt: Physikalische Gesetze bleiben richtig, wenn man sich die Welt im Spiegel anschaut. Wobei zur Spiegelung mehr gehört als das Vertauschen von links und rechts. Gespiegelt wird – neben anderem – auch die elektrische Ladung, nämlich von positiv zu negativ. Die Regel, die CP-Invarianz genannt wird, stellt sicher, dass eine Welt, die aus Antimaterie bestünde, genauso funktionieren würde wie unsere Welt.

Doch erstaunlicherweise wird beim Betazerfall die CP-Invarianz verletzt. Das Neutrino hat, wie viele andere Elementarteilchen, einen Drehimpuls (Spin), vergleichbar der Drehung eines Kreisels. Spiegelt man einen Kreisel, dreht er sich in entgegengesetzter Richtung. Aber Neutrinos, wie sie bis heute nachgewiesen wurden, drehen sich immer linksherum. Gibt es bisher unentdeckte rechtsdrehende Neutrinos? Diese Neutrinos, Physiker nennen sie sterile, könnten erheblich zur Dunklen Materie beitragen, sagt Guido Drexlin.

Dunkle Materie, Standardmodell, CP-Invarianz: das Neutrino bekommt immer mehr eine Schlüsselstellung in der Physik des sehr Großen, des Kosmos, und des sehr Kleinen, der Welt der Atome und Elementarteilchen. Das Karlsruher Experiment interessiert deshalb nicht nur Neutrinoforscher. Drexlin konnte ein Team von rund 150 Forschern aus fünf Ländern um sich versammeln, davon die Hälfte aus Karlsruhe. 60 Millionen Euro hat er zur Verfügung, die Neutrinomasse neu zu bestimmen. Heute wird sie üblicherweise mit „kleiner als 2,2“ angegeben. Die Maßeinheit ist nicht Gramm, sondern die atomphysikalische Größe „Elektronenvolt pro Quadrat der Lichtgeschwindigkeit“. Das leichteste Atom, das Wasserstoffatom, hat rund eine halbe Milliarde Mal mehr Masse als ein Neutrino, und sogar ein Elektron bringt 250 000-mal so viel Masse auf die Waage.

Die Messungen dauern fünf Jahre

Katrin soll die Angabe des Höchstwertes „kleiner als 2,2“ um den Faktor zehn verbessern. Wenn die Neutrinomasse groß genug ist, kann Katrin diese vielleicht genau angeben. Möglich ist aber auch der Befund einer neuen Obergrenze, etwa „kleiner als 0,2“. Schwierig wird es für die Karlsruher, wenn die Neutrinomasse zum Beispiel bei nur 0,1 läge. „Das wäre für uns knapp“, sagt Drexlin. Denn dann könnte sie auch null sein. „Aber wir haben noch Trümpfe in der Hand. Wir können das Experiment noch präziser machen.“

Das Messverfahren ist raffiniert. Es braucht ein Tritiumlabor, denn es setzt auf den Beta-Minus-Zerfall des Tritiums. „Das Tritium kaufen wir in Kanada“, sagt Drexlin. Dort entsteht es als Abfallprodukt in Schwerwasserreaktoren. Ganz billig geben es die Kanadier nicht ab. „Tritium ist unwesentlich teurer als Diamant“, sagt Drexlin.

Tritium-Atome werden in der Tritiumquelle zerfallen. Elektron und Neutrino fliegen auseinander. Wie viel Energie dabei frei wird, ist genau bekannt. Das Neutrino kann Katrin nicht registrieren, aber das Elektron. Katrin lässt die Elektronen aus dem Betazerfall in dem gigantischen Hauptspektrometer gegen ein elektrisches Feld anlaufen, wie Bälle, die einen Berg hinaufrollen. Nur die schnellsten, energiereichsten Elektronen können den Berg überwinden. Alle anderen fallen zurück. Da die Höhe des Berges, die Feldstärke, sehr präzise eingestellt werden kann, wissen die Forscher, wie viel Energie die Elektronen mindestens hatten, die hinter dem Berg von einem Detektor registriert werden. Daraus können sie auf die Ruhemasse des beteiligten Neutrinos zurückschließen.

Drexlin rechnet damit, dass alle ein bis zwei Minuten ein solches Ereignis registriert wird. Im Herbst 2016 soll die Messung beginnen. Fünf Jahre sind nötig, bis verlässliche Ergebnisse vorliegen. Doch Drexlin hofft, dass Katrin schon nach wenigen Tagen den bisher bekannten Wert für die Ruhemasse des Neutrinos bestätigen kann.