Mehr als 100 Millionen Euro will EnBW als Schadenersatz wegen des Atomausstiegs. Dass sie einen Altmeiler freiwillig abfahren wollte, wird in der Klage nicht erwähnt. Kein Wunder: es stimmte nicht, wie der Karlsruher Energiekonzern jetzt einräumt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Die Pressemitteilung der EnBW ist fast vier Jahre alt, aber plötzlich wieder hoch aktuell. Angesichts der „dramatischen und menschlich zutiefst bewegenden Ereignisse” in Fukushima verkündete der Karlsruher Energiekonzern am 15. März 2011, das Gemeinschaftskernkraftwerk Neckarwestheim I „vorübergehend freiwillig abfahren zu wollen”. Dies geschehe „auch aus Respekt vor den offenkundigen Besorgnissen der Bevölkerung, die sich auch im Willen der Politik widerspiegelt”. Damit dokumentiere die EnBW „ein Verantwortungsbewusstsein, das über den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken hinausreicht und auch gesamtgesellschaftliche Aspekte umfasst”, betonte der damalige Vorstandsvorsitzende Hans-Peter Villis. Als am Folgetag im Zuge des dreimonatigen Atom-Moratoriums Anordnungen des Landesumweltministeriums ergingen, die Reaktoren Neckarwestheim I und Philippsburg I für drei Monate stillzulegen, erinnerte Villis noch einmal an das Angebot: EnBW habe GKN I „vorübergehend freiwillig abfahren” wollen.

 

Keine Klage, um das Image zu pflegen

Vier Wochen später, Mitte April, gerierte er sich erneut als Chef eines Unternehmens, das nicht nur seine eigenen Interessen, sondern das große Ganze im Blick habe. EnBW habe zwar „erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnungen” und erleide durch den Stillstand der beiden Altmeiler deutliche Verluste. Trotzdem werde man keine Rechtsmittel dagegen einlegen. Berücksichtigt würden damit „nicht allein kurzfristige wirtschaftliche Nachteile, sondern auch der langfristige Erhalt der Kundenbeziehungen und die Akzeptanz des Unternehmens in der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungsträgern”, ließ Villis mitteilen.

EnBW fordert mindestens 100 Millionen Euro

Heute, vier Jahre später, klingen die vollmundigen Erklärungen recht hohl. Denn die EnBW hat sich unter dem neuen Vorstandschef Frank Mastiaux inzwischen doch entschlossen, wegen der Konsequenzen aus Fukushima zu prozessieren: Vor Weihnachten reichte sie beim Landgericht Bonn eine Schadensersatzklage gegen den Bund und das Land Baden-Württemberg ein. Für den Stillstand der beiden Reaktoren während des Moratoriums und den folgenden Wochen bis zum 6. August, als der Atomausstieg per Gesetz besiegelt wurde, verlangt sie „einen niedrigen dreistelligen Millionenbetrag” – dem Vernehmen nach geht es um 100 bis 150 Millionen Euro.

Damit folgen die Karlsruher dem Beispiel der beiden Branchenriesen, die entsprechende Klagen bereits zuvor auf den Weg gebracht haben: Eon verlangt vom Bund und mehreren Ländern 380 Millionen Euro, RWE 235 Millionen Euro. Beide Konzerne fordern zudem per Verfassungsklage Schadenersatz in Milliardenhöhe wegen des eigentlichen Atomausstieges – ein Weg, der EnBW verbaut ist: Weil das Unternehmen fast vollständig im Besitz der öffentlichen Hand ist – das Land und der Landkreiseverbund OEW halten jeweils gut 47 Prozent der Anteile – , darf es nicht nach Karlsruhe ziehen.

Konzern wollte Altmeiler nie freiwillig abfahren

Erst der demonstrative Verzicht auf Rechtsmittel, dann doch eine Klage – diesen Sinneswandel erklärte die EnBW vor allem mit dem Hinweis auf Hessen. Dort sei inzwischen höchstrichterlich festgestellt, dass die gleichlautende Anordnung für den Reaktor Biblis rechtswidrig war; die Gründe dafür seien voll übertragbar. Das Angebot, zumindest Neckarwestheim 1 freiwillig herunterzufahren, wird in der Klageschrift nach StZ-Informationen überhaupt nicht erwähnt. Kein Wunder: es stimmte gar nicht, wie die EnBW heute einräumt: „Der Aufsichtsbehörde war bekannt, dass die Anlagen ohne . . . Anordnung nicht abgefahren werden“, teilte das Unternehmen jetzt mit. Überhaupt seien „die damaligen Aussagen vor dem damaligen Hintergrund zu betrachten und zu bewerten“ – eine indirekte Bestätigung dafür, dass EnBW die Öffentlichkeit im Frühjahr 2011 irreführend informiert, wenn nicht getäuscht hat. Die Katastrophe von Fukushima drohte damals schließlich den Wahlsieg von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) bei der bevorstehende Landtagswahl zu gefährden. Da war es hilfreich, wenn sich der kurz zuvor von Mappus nächtens zurückgekaufte Energiekonzern einsichtig zeigte.

Im Rechtsstreit mit dem Miteigentümer Land dürfte die EnBW nun noch stärker in Erklärungsnot geraten. Ihre Klage stützt sie nach StZ-Informationen – wie Eon und RWE – auch auf ein Schreiben des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) an den früheren RWE-Chef Jürgen Großmann. Darin warnte Bouffier im Juni 2011 davor, den Reaktor Biblis B nach Ablauf des Moratoriums wieder anzufahren. Von dem Recht dazu werde RWE „im Hinblick auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auch in Zukunft mit den hessischen Behörden” ja wohl keinen Gebrauch machen, hieß es darin. Falls doch, werde die hessische Atomaufsicht auch im Auftrag des Bundes „dagegen vorgehen”.

RWE-Chef bestellte Drohbrief bei Bouffier

Nun stellt sich heraus: der Drohbrief war offenbar bestellt. Das legt ein vorausgegangenes Schreiben Großmanns an Bouffier nahe, welches das TV-Magazin „Monitor“ zu Tage förderte; es liegt auch der StZ vor.

Der Wortlaut: „Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Bouffier, der 15. Juni und damit der Tag, an dem wir Biblis B wieder anfahren könnten, rückt näher. Herr Minister Pofalla sagte mir zu, mir bis dorthin wieder einen schriftlichen Bescheid zu geben, dass Sie ein eventuelles Anfahren verhindern werden. Wann können wir mit diesem Schreiben rechnen? Grüße in die USA, Ihr Jürgen Großmann. ”

Wenige Tage später, nach der Rückkehr von seiner Reise, lieferte Bouffier wunschgemäß. RWE durfte sich also die Begründung für die heutige Klage bestellen, und das in Absprache mit dem Kanzleramtsminister? Durch dessen Vermittlung „rückt auch die Kanzlerin selbst gefährlich nahe an diesen empörenden Deal zwischen Politik und Energiewirtschaft“, sagt die Karlsruher Grünen-Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Schon 2011 hatte sich die Atomexpertin nach der Lücke zwischen dem Ende des Moratoriums und dem offiziellen Beginn des Atomausstieges erkundigt. Von der Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Katherina Reiche (CDU), bekam sie indes nur eine patzige Antwort: „An Spekulationen über Maßnahmen bis zum Inkrafttreten des Gesetzes beteiligt sich die Bundesregierung nicht.”

Die Bundesregierung hüllt sich in Schweigen

Bundesregierung will nichts dazu sagen

Auch jetzt wollte sich ein Berliner Regierungssprecher auf StZ-Anfrage nicht zu dem „behaupteten Sachverhalt” äußern. Begründung: dieser stehe im Zusammenhang mit der laufenden RWE-Klage, zudem seien die Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses in Hessen abzuwarten. Dort ist der Ministerpräsident wegen der Enthüllungen bereits erheblich unter Druck geraten. Von „beispielloser Kumpanei zwischen Politik und Wirtschaft” sprach etwa die SPD. Bouffier habe die „juristische Munition” für eine Millionenklage zulasten der Steuerzahler geliefert. Der Regierungschef ließ zwar erklären, bei seinem Brief handele es sich nur um „ein politisches Schreiben” ohne rechtliche Relevanz. Doch schon der hessische Verwaltungsgerichtshof sah das offenbar anders; auch die Konzerne würden ihre Klagen wohl kaum auf das Schreiben stützen, wenn es juristisch ohne Belang wäre.

Dass der Drohbrief offenbar bestellt war, geht aus ihren Schriftsätzen nicht hervor – und dürfte ihre Rechtsposition nicht gerade stärken. „Wir haben das mit Interesse zur Kenntnis genommen”, lässt der baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) erfreut ausrichten. Im anhängigen Gerichtsverfahren werde das Zustandekommen des Schreibens sicher eine Rolle spielen.

Pofalla soll als Zeuge vor U-Ausschuss aussagen

Darum dürfte es zunächst im hessischen U-Ausschuss zu den Vorgängen um Biblis gehen. Im Frühjahr sollen dort Großmann und Bouffier als Zeugen gehört werden, auch Pofalla droht nun eine Ladung. Bei der EnBW heißt es, man habe „keine Kenntnis von getroffenen Absprachen”. Daher könne man sie auch nicht bewerten.

Mehr weiß womöglich der einstige Konzernchef Hans-Peter Villis. Doch auf eine StZ-Anfrage, wie wahrhaftig die EnBW nach Fukushima eigentlich die Öffentlichkeit informiert habe, meldete sich Villis aus dem spanischen Murcia: Er befinde sich mit dem VfL Bochum – bei dem Fußballclub ist er Aufsichtsratsvorsitzender – gerade im Trainingslager und könne „kurzfristig keine Stellungnahme abgeben”.