Der Dauerstreit über das Verkehrsprojekt Stuttgart 21 belastet die grün-rote Regierung im Südwesten. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Stuttgart - In der kommenden Woche wollen Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein Vize Nils Schmid Bilanz über die ersten hundert Tage der grün-roten Koalition ziehen. Das Beste, was sie bei dieser Gelegenheit zu sagen haben werden, ist der schlichte Satz, dass es nur noch besser werden kann mit Grün-Rot. "Uns fehlt ein zentrales Projekt", monierte dieser Tage ein Koalitionsstratege. Was aber nicht bedeutet, dass es Grün-Rot eines zentralen Themas ermangelt. Nur handelt es sich dabei um ein Streitthema, und das heißt - Überraschung - Stuttgart 21.

 

Die jüngste Wendung im innerkoalitionären Dauerkonflikt leiteten am späten Mittwochvormittag Regierungschef Kretschmann und sein Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) ein. Hermann bezeichnete die von Schlichter Heiner Geißler auf den Tisch geworfene Kombilösung mit einem Tiefbahnhof plus Kopfbahnhof als durchaus tragfähig: "In der Gesamtschau positiv", stempelte der Minister auf das Geißler-Papier. Es gab, nebenbei bemerkt, auch schon Zeiten, da hatte der Minister das Kombimodell weitaus kritischer gesehen. Zur selben Zeit wurde ein Interview Kretschmanns bekannt, in dem er Geißlers Vorschlag "ernsthaft und interessant" nannte. "Ich hoffe, dass die SPD auch sieht, was für Chancen in ihm stecken."

Erschrockenes Schweigen

Es war dann gegen Mittag, als im fernen Kroatien einem Urlauber der Kragen platzte. Der Mann heißt Claus Schmiedel und steht der SPD-Landtagsfraktion vor, nimmt damit also eine zentrale Position im Koalitionsgefüge ein. Schmiedel kabelte via Presseagentur die empörte Botschaft nach Stuttgart, seine Fraktion sei keineswegs bereit, den Geißler-Vorschlag weiterzuverfolgen. "Niemand kann die Grünen daran hindern, weiter auf diesem Vorschlag rumzureiten. Aber ein Projekt der grün-roten Koalition wird das nicht."

Das politische Stuttgart reagierte darauf zunächst mit einem erschrockenen Schweigen. Denn die Wortmeldungen folgten so gar nicht dem Plan, den man sich in den grün-roten Reihen für den Umgang mit Geißlers Überraschungsnummer zurechtgelegt hatte. Am Donnerstagvormittag wollten sich die Koalitionsspitzen aus ihren diversen Urlaubs- und Verweilorten zusammentelefonieren, um sich eine gemeinsame Antwort auf Geißler zurechtzulegen.

Auch das Ausstiegsgesetz stößt auf Kritik

Die Vorarbeiten hatte das Verkehrsministerium unter Hinzuziehung des Innen- und des Justizressorts geleistet, das Finanzministerium prüfte die Frage, was der Geißler-Vorschlag kosten würde. Doch wie schon so häufig in der grün-roten Koalition versuchten die Protagonisten, schon vorher ihre Positionen abzustecken. Schon etwas verzweifelt wies ein Regierungssprecher darauf hin, dass doch der Koalitionsausschuss das richtige Gremium sei, um Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Wortmeldungen wie jene von Schmiedel führten nicht weiter.

Das klang noch staatstragend. Hinter den Kulissen brodelte es aber schon heftig. "Ich kann diese Muskelspiele nicht mehr ab", ärgerte sich einer aus den Reihen der Grünen. Damit meine er nicht nur Schmiedel, sondern beziehe Hermann ausdrücklich mit ein. Es gehe nicht an, immer schon vorab Fakten schaffen zu wollen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Edith Sitzmann warf Schmiedel eine "Tonlage der Basta-Politik" vor, und Uli Sckerl, der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, sagte schlicht: "Schmiedel nervt."

"Er kann ja sehr direkt sein"

Aus Sicht der SPD stellt sich das genau entgegengesetzt dar: "Hermann hält sich nicht an die Spielregeln, und Schmiedel geigt ihm dann die Meinung, sagt ein führender Sozialdemokrat. "Er kann ja sehr direkt sein." Das musste auch schon der Ministerpräsident feststellen, der vor einiger Zeit vom SPD-Fraktionschef heftig gerügt wurde, als Kretschmann zur Überraschung der SPD in der Debatte über eine Verlängerung des Baustopps plötzlich doch über eine finanzielle Beteiligung des Landes nachdenken wollte. Das verstieß klar gegen die Absprache in der Koalition. Die SPD fühlte sich auch düpiert, als Verkehrsminister Hermann schon zu Beginn der Präsentation des Stresstests eine Pressemitteilung verteilen ließ, in der das Abschneiden des Tiefbahnhofs sehr kritisch kommentiert wurde. Dabei hatten die Koalitionäre abgemacht, eine gemeinsame Bewertung vorzunehmen.

Das ist nicht alles. Auch das Ausstiegsgesetz, dessen inhaltliche Begründung dem Verkehrsministerium oblag, stößt manchen Sozialdemokraten auf. Sie hatten gefordert, die Ausstiegskosten zu beziffern. Stattdessen heißt es in der Gesetzesbegründung sinngemäß, ob überhaupt und gegebenenfalls in welcher Höhe eine Entschädigung an die Bahn bezahlt werden müsse, werde sich weisen.

Die Liste der gegenseitigen Verletzungen in der Koalition ist lang. Die Opposition darf sich freuen. "Die Zerstrittenheit der Regierung lässt tief blicken", frohlockte CDU-Fraktionschef Peter Hauk. Sein FDP-Kollege Hans-Ulrich Rülke warf den Grünen vor, es gehe ihnen nur darum, durch eine weitere Verzögerungstaktik Stuttgart 21 zu Fall zu bringen. Das klingt nicht gut für die Koalition. Ist sie in Gefahr? Ach wo, sagt Hans-Ulrich Sckerl, der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, treuherzig: "Von einer Krise sind wir ganz, ganz weit entfernt."