Wenn der neue Bahnhof nicht alle Verkehrsfunktionen des bestehenden übernehme, dürfe er nicht stillgelegt werden. Das sagt der Eisenbahnrechtler Urs Kramer von der Uni Passau. Er hat im Auftrag des Landesverkehrsministeriums ein Gutachten erstellt.

Stuttgart - Der Passauer Universitätsprofessor Urs Kramer hat im Auftrag des Landesverkehrsministeriums gutachterlich bewertet, ob der Kopfbahnhof nach der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 auch dann stillgelegt werden kann und die frei werdenden Flächen bebaut werden dürfen, wenn Dritte ein Interesse an einem Weiterbetrieb hätten. Diese juristische Klärung ist notwendig geworden, nachdem sich diverse Privatpersonen und Firmen, die Bahnverkehr anbieten, in der Stuttgarter Netz AG zusammen geschlossen haben und vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart klären lassen, ob die Bahn die alten Gleisanlagen abbauen darf.

 

Wann eine Entscheidung ergeht, vermochte eine Gerichtssprecherin am Freitag nicht zu sagen. Das Kommunikationsbüro für S 21 hat mitgeteilt, die Klageerwiderungen von DB und des Eisenbahnbundesamts (Eba) lägen vor: „Beide haben die Abweisung der Klage beantragt und ihre Anträge umfassend begründet“.

Kramer ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht an der Uni Passau. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit ist das deutsche und europäische Eisenbahnrecht. Das Verkehrsministerium hatte bei dem gebürtigen Stuttgarter vor der Volksabstimmung Ende 2011 das Gutachten in Auftrag gegeben, das im Mai 2012 fertig war. Aber erst in dieser Woche hat es Verkehrsminister Winfried Hermann auf der Internetseite des Ministeriums öffentlich gemacht. Dabei kommt das Fazit dem S 21-Kritiker entgegen.

Die Tieferlegung des Bahnhofs ist wie eine Stilllegung

Denn Kramer hat „erhebliche Zweifel“, dass der Durchgangsbahnhof den bestehenden Kopfbahnhof voll ersetzen könnte. S 21 bedeute nicht etwa einen gleichwertigen Ersatz des Kopfbahnhofs, nur eben unter der Erde, durch einen Umbau, wie die Deutsche Bahn Glauben machen will, sondern faktisch die Stilllegung der alten Gleisanlagen. Dies habe wiederum zur Folge, dass zuvor ein Genehmigungsverfahren vor dem Eba eingeleitet werden müsse, in dem Planfeststellung, Widmung und Betriebsgenehmigung rückabgewickelt würden. In diesem Rahmen bestünde die Möglichkeit Dritter wie etwa der Netz AG, Teile der Bahnanlagen zu marktüblichen Konditionen zu übernehmen.

Der Eisenbahnrechtler begründet dies damit, dass S 21 diverse Optionen wie die Nutzung mit herkömmlichen Dieselzügen, historischen Dampfloks oder das Rangieren oder Wenden von Zügen ausschließe. Besonders der Ausschluss von herkömmlicher Dieseltraktion hätte eine verkehrliche Bedeutung, weil aktuelle Angebote wie die Durchbindung der Interregiozüge von Sigmaringen oder vom Bodensee entfielen, die nur mit Dieseltraktion möglich seien.

Auf die Stilllegung folgt gewöhnlich die „Freistellung von Bahnbetriebszwecken“. Erst danach hätte die Stadt das Recht, diese Flächen zu bebauen. Diese Freistellung kann laut Kramer aber nicht erteilt werden, wenn im Rahmen des Verfahrens ein fortbestehendes aktuelles oder zumindest in der Zukunft absehbares, plausibles Verkehrsbedürfnis festgestellt wird. Dieses Bedürfnis habe die Netz AG, betonte deren Aufsichtsratsvorsitzender Alexander Kirfel schon Mitte 2011; er argumentiert ähnlich wie Kramer. Dessen Auffassung ist für die Bahn sowenig „inhaltlich noch rechtlich überzeugend“ wie die Kirfels. Keine neuen Erkenntnisse, heißt es. Die These, es sei ein Stilllegungsverfahren für den Umbau nach § 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes notwendig, sei „vollkommen unbegründet“, weil alle vorhandenen Strecken an den Tiefbahnhof angebunden würden. Die Notwendigkeit eines Verfahrens zur Freistellung nach § 23 stelle man nicht in Abrede. Es sei aber klar, dass die Genehmigung schon deshalb erteilt werde, weil kein Verkehrsbedürfnis für das Gleisvorfeld mehr gegeben sei. Diese Entscheidung obliegt laut Kramer aber nicht der Bahn, sondern dem Eisenbahnbundesamt, das sich zuvor mit „Fachkreisen“ bespricht.

OB Kuhn akzeptiert Schusters Stellungnahme nicht mehr

Entscheidend ist für die Bahn, dass sie den „diskriminierungsfreien Zugang“ zu den Anlagen gewähre. Kramer stelle diesen zwar in Frage, etwa für Dieselfahrzeuge, die nicht im Tunnel fahren dürften; aber schon der Verwaltungsgerichtshof habe 2006 klar gestellt, dass kein Anspruch auf die Nutzung mit bestimmten Fahrzeugen bestehe. Es gebe ja auch keinen Anspruch auf die Elektrifizierung aller Strecken.

Der scheidende Sprecher der Stadt, der noch vom S 21-Befürworter OB Wolfgang Schuster (CDU) eingesetzte Markus Vogt, hatte am Dienstag mitgeteilt, für die bereits im Oktober 2011 von der Verwaltung vorgenommene Bewertung der Situation habe das Gutachten keine neuen Erkenntnisse geliefert. Ein Stilllegungsantrag sei nicht erforderlich. Michael Münter, Chef der Stabsstelle Planung und Koordination des neuen OB Fritz Kuhn (Grüne), kassierte jedoch am Freitag diese Stellungnahme: Sie habe nur bis zur OB-Wahl gegolten. Kuhn sei dabei, das Gutachten zu lesen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Rechtliche Grundlagen für das Handeln der Bahn

Bevor eine Strecke stillgelegt und abgebaut werden darf, muss das Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen (EIU), also meist die Deutsche Bahn, nach § 11 und § 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) verfahren. Dabei ist vorrangig das Interesse von Dritten an der Weiterführung des Betriebs und das weitere Verkehrsbedürfnis zu prüfen.

Stilllegung nach § 11
: Das EIU muss den Nachweis führen, dass ihm der weitere Betrieb der Strecke nicht zuzumuten ist. Es muss zuvor den Betrieb der Infrastruktur zur Übernahme ausgeschrieben und belegen, dass Verhandlungen zur Übernahme erfolglos waren.

Freistellung nach § 23:
Grundstücke, auf denen Eisenbahnbetrieb herrscht, sind öffentliche Verkehrsflächen. Durch diese „Widmung“ besteht für solche Grundstücke ein öffentlich-rechtlicher Planungs- und Nutzungsvorbehalt. Man kann sie also nicht eben so privatisieren. Der Vorbehalt gilt solange, bis festgestellt ist, dass das Grundstück von diesem Bahnbetriebszweck befreit werden kann. Die Freistellung ist die Erlaubnis zur Entwidmung. Sie darf erst vorgenommen werden, wenn kein Verkehrsbedürfnis mehr besteht und langfristig eine Nutzung der Infrastruktur nicht mehr zu erwarten ist. Das Eisenbahn-Bundesamt muss die Grundstücke bekannt machen. Danach kann man seine Bedenken vortragen.