Seit 2012 existiert ein Fonds, aus dem ehemalige Heimkinder Entschädigungen erhalten sollen. Doch die zuständigen Stellen sind völlig überlastet. In Stuttgart werden derzeit nicht einmal mehr neue Gesprächstermine vergeben.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Sie haben Schreckliches erlebt: Viele Kinder, die zwischen 1949 und 1975 in einem Heim untergebracht waren, sind geschlagen, gedemütigt und sexuell missbraucht worden. Das Brechen der Persönlichkeit war Ziel der „Erziehung“. „98 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, leiden an körperlichen oder seelischen Folgen ihrer Heimzeit“, sagt Irmgard Fischer-Orthwein, die die Stuttgarter Anlaufstelle für Heimkinder leitet. „Es ist erschütternd, was damals passiert ist.

 

Ziel der Stelle ist, zumindest eine gewisse finanzielle Entschädigung zu leisten. Doch die vier Beraterinnen sind heillos überlastet. Das Jahr 2015 ist vollständig ausgebucht, zuletzt hat man 142 Menschen einen Ersttermin für Mai 2016 (!) zugesagt, weitere 177 Personen haben vorerst gar keinen Termin mehr erhalten. Viele Betroffene sehen darin eine weitere Demütigung.

Doch der Reihe nach. Nach dem Bekanntwerden zahlreicher Missbrauchsfälle in Heimen haben Bund, Länder und Kirchen im Jahr 2011 den Fonds Heimerziehung geschaffen, in den sie jeweils 40 Millionen Euro einzahlten. Betroffene können, falls sie in den Heimen arbeiten mussten, Ersatz für entgangene Rente beantragen (bei sieben Arbeitsjahren maximal 23 000 Euro) sowie eine Unterstützung bei gesundheitlichen oder psychischen Problemen (maximal 10 000 Euro). Die Meldefrist endete vor wenigen Tagen, am 31. Dezember 2014. In der Stuttgarter Anlaufstelle, die für ganz Baden-Württemberg zuständig ist, meldeten sich 2180 Menschen.

Rund zwei Jahre dauert es bis zum Bescheid

Doch es wird Jahre dauern, bis tatsächlich alle Anträge abgearbeitet sind. Irmgard Fischer-Orthwein hat das zuständige Sozialministerium dringend gebeten, zwei weitere Beraterinnen anzustellen, damit die Wartezeiten auf einen akzeptablen Rahmen verkürzt werden können. Das Ministerium, das kurz nach der Eröffnung der Stelle das Personal aufgestockt hatte, prüft die Bitte – die Pressestelle konnte am Freitag aber keine Auskunft erteilen und bat um Aufschub bis Montag.

Daneben gibt es einen zweiten Flaschenhals. Alle Anträge müssen in der zentralen Geschäftsstelle des Fonds in Köln letztgültig befürwortet werden – das dauere in der Regel ein weiteres halbes Jahr, so Irmgard Fischer-Orthwein. Eine gesamte Bearbeitungszeit von mindestens zwei Jahren ist also im Moment die Regel.

Viele Betroffene lehnen den Fonds kategorisch ab

Der bundesweit tätige Verein ehemaliger Heimkinder, in dem einige Hundert Betroffene organisiert sind, hatte den Fonds von Anfang an abgelehnt. Man wolle eine „wahrhaftige Entschädigung“ und kein Almosen, sagt der Vorsitzende Dirk Friedrich. Außerdem sei das jetzige Verfahren bürokratisch überladen. „Und bewilligt wird nur das Notwendigste“, so Friedrich.

Tatsächlich sagt auch Irmgard Fischer-Orthwein, dass manche Klienten sich beklagten, weil die einmal festgelegte Art der Entschädigung nicht mehr verändert und die Verwendung des Geldes streng kontrolliert werde – wer zum Beispiel eine Erholungsreise bewilligt bekam, darf das Geld nicht kurzfristig für seine Enkel ausgeben. „Es geht um öffentliche Gelder, da muss alles dokumentiert werden“, so Fischer-Orthwein. Eine Erklärung, auf weitere Ansprüche zu verzichten, müsse aber nicht unterschrieben werden.

Bund, Länder und Kirchen müssen Fonds aufstocken

Schon seit Mitte 2014 sind die gesamten 120 Millionen Euro ausgeschöpft. Fischer-Orthwein ist froh, dass dennoch kein Beratungsstopp verhängt wurde. Bund, Länder und Kirchen hätten sich im Grundsatz verständigt, weitere Mittel frei zu geben. Die Leiterin der Stuttgarter Beratungsstelle geht davon aus, dass mindestens noch einmal die gleiche Summe benötigt wird. Für Personen in Baden-Württemberg sind bisher 7,85 Millionen Euro ausgezahlt worden – die realen Zahlungen liegen danach sehr weit unter den genannten Höchstsätzen.

Beklagt wird von Dirk Friedrich außerdem, dass nur wenige Einrichtungen ihre Vergangenheit aufarbeiteten; im Großraum Stuttgart ist dies derzeit auf Druck der Opfer bei der Brüdergemeinde in Korntal der Fall. Fischer-Orthwein bestätigt dies: „Bei einzelnen Einrichtungen kommt etwas in Gang. Eine große Bewegung ist das nicht.“