Susanna Filbinger-Riggert, die Tochter von Hans Filbinger, hat sich mit ihren Geschwistern geeinigt. Die Zitate aus den Tagebüchern des Vaters finden sich nicht mehr im Buch. Die StZ-Redakteurin Annette Schwesig ist der Autorin begegnet.

Reise: Annette Schwesig (apf)

Stuttgart - Der Zug von Düsseldorf hat mehr als eine Stunde Verspätung. Das ist viel, vor allem, wenn der Zeitplan so straff ist wie der von Susanna Filbinger-Riggert. Die 62-Jährige ist für einen Tag in ihr alte Heimat Stuttgart gekommen, um ihr gerade erschienenes Buch „Kein weißes Blatt“ vorzustellen. Drei Termine hat sie in diesen Nachmittag gepackt, und diese Verspätung bringt nun alles durcheinander. Das ärgert Filbinger-Riggert. Nicht nur, weil sie Unpünktlichkeit hasst, sondern auch, weil es für die älteste Tochter von Hans Filbinger, dem früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, nicht ganz leicht ist, über ihr Buch zu sprechen. Sie wollte Abstand haben zwischen den einzelnen Gesprächsterminen, durchatmen, sich wieder sammeln. Es ist keine einfache Gratwanderung: Natürlich möchte sie über ihr Buch sprechen, einerseits, andrerseits aber fällt ihr das Reden über ihre Familie schwer, weitaus schwerer als das Schreiben darüber.

 

Und noch etwas fällt ihr schwer: immer wieder darauf hinzuweisen, dass es in dem Buch nicht nur um ihren Vater und um sie und ihren Vater geht, sondern eben auch nur um sie alleine: um ein Frauenleben mit all seinem Glück und all seinen Schwierigkeiten. Ein wesentlicher Teil des Buches handelt davon, wie sich Filbinger-Riggert als alleinerziehende Mutter eine Existenz außerhalb Europas aufgebaut hat. „Doch das interessiert die Leser am wenigsten“, sagt sie. „Immer wieder werde ich nach dem Vater gefragt. Wie er so war, was er von diesem und jenem gehalten hat, zum Beispiel von der Wiedervereinigung,“, erzählt sie leicht amüsiert. Denn wirklich wundern kann sie sich darüber nicht, längst hat sie sich damit abgefunden, dass sie den Vater, dass sie den Namen Filbinger in diesem Leben nicht mehr loswerden wird.

Früh hat sie begonnen, die Familiengeschichte aufzuschreiben

Das war ein langer, oft schmerzlich-einsamer Weg mit vielen Höhen und Tiefen. Schon lange bevor Filbinger-Riggert die Tagebücher ihres Vaters in Händen hielt, hat sie selbst Tagebuch geschrieben. „Im Herbst 2007 habe ich mein erstes Schreibseminar besucht. Schon bald habe ich begonnen, meine Familiengeschichte aufzuschreiben, an Veröffentlichung hab ich dabei nicht gedacht“, sagt Filbinger-Riggert mit ihrer zarten, immer noch mädchenhaften Stimme. Der Vater war im Jahr 2007 gestorben. Als danach wieder die Diskussion über dessen nationalsozialistische Vergangenheit losging, hat sich die damals 55-Jährige zurückgezogen und sich „die Seele aus dem Leib geschrieben“.

Hans Filbinger war 1978 als Ministerpräsident zurückgetreten, nachdem bekannt geworden war, dass er im Dritten Reich als Marinerichter an der Entstehung von Todesurteilen beteiligt war. „Ich muss für mein Leben klären: Wie gehe ich mit diesem Vater um? In erster Linie war er ja mein Vater und erst danach der politisch handelnde Mensch. Ich kam für mich zu keinem Abschluss.“ Andere Menschen in vergleichbaren Situationen würden vielleicht eine Therapie machen oder eine Weltreise antreten. „Ich habe geschrieben. Das ist mein Prozess gewesen, das ist meine ganz persönliche Geschichte“, sagt Filbinger-Riggert, die heute als Unternehmensberaterin in der Nähe von Düsseldorf lebt und arbeitet.

Der Fund der Tagebücher brachte alles in Gang

Als sie dann im Frühjahr 2009 die Tagebücher ihres Vaters fand, war ihr schnell klar, dass jetzt der geeignete Zeitpunkt gekommen war, um ihr Buchprojekt anzugehen. Im Vorwort der Anfang Mai erschienenen Autobiografie „Kein weißes Blatt“ heißt es: „Ich ringe immer wieder und immer noch mit dem, was war, und dem, was ist. Vielleicht werde ich nie ganz ,fertig‘ mit allem sein. Aber ein Anfang ist gemacht. Die Beschäftigung mit den Tagebüchern meines Vater, die ich durch Zufall entdeckte und die der Auslöser für dieses Buch waren, ist für mich ein wichtiger Schritt in Richtung Verstehen, jenseits von Rechtfertigung und Verurteilung.“

Es ist ein erstaunlich freimütiges, ein berührendes und zudem sehr gut geschriebenes Buch geworden. Besonders eindrücklich sind die Passagen, in denen sie die häusliche Situation der kinderreichen Familie beschreibt: die liebevolle und humorvolle, manchmal aber auch abweisende und überforderte Mutter. Den unter der Woche abwesenden und am Wochenende strengen und sehr auf Disziplin achtenden Vater. Nie, außer im Urlaub, hat die kleine Susanna ihren Vater anders als im dunklen Anzug mit Hemd und Krawatte gesehen.

Ein Leben in der Öffentlichkeit

Als extrem belastend empfand sie das Leben in der Öffentlichkeit, von 1975 an stand die Familie unter Personenschutz. Dann der Rücktritt: die junge Susanna Filbinger war damals Mitarbeiterin der Deutschen Handelskammer in London. Auf einmal gab es „Platzprobleme“. „Mit anderen Worten: auch ich musste zurücktreten.“

Zwei ihrer Geschwister haben verhindert, dass die erste Auflage des Buchs erscheint, weil darin viele Originalzitate aus den Tagebüchern standen, an denen alle Geschwister die Rechte haben. Die überarbeitete Version verzichtet nun auf Zitate, und kurz vor Redaktionsschluss wurde gemeldet, dass der Streit beigelegt ist. Der Verzicht auf die wörtlichen Zitate ist nicht unbedingt ein Verlust; dadurch, dass die Autorin die Stellen umgeschrieben hat, kommt ihre persönliche Sicht der Dinge, ihre Stimme noch mehr zur Geltung. Man verfällt gar nicht erst darauf, es könne sich um eine politische Biografie samt Neubewertung handeln. Um wirklich Nutzen und historische Kenntnisse aus den von Hans Filbinger hinterlassenen 60 Ringbüchern ziehen zu können, müsste man sie zunächst ordentlich edieren. Gerade die eng beschriebenen Tagebücher aus der Kriegszeit sind schwer zu lesen und zu interpretieren.

Das räumt Filbinger-Riggert mittlerweile ein. Sie hätte nichts gegen eine Edition. Doch ihre Geschwister müssten einverstanden sein. „Wir sind alle fünf Eigentümer.“ Da sei noch nichts spruchreif. Sicher ist, dass sie weiterschreiben wird, und dass ihr nächstes Buch nicht zwingend etwas mit ihrer Familie zu tun haben muss.

Buchvorstellung und Tagung

Susanna Filbinger-Riggert: Kein weißes Blatt. Eine Vater-Tochter-Biografie. Campus Verlag, 284 Seiten, 19,99 Euro. Co-Autorin ist die Schriftstellerin Liane Dirks. Im Juni (vermutlich am Donnerstag, 13. Juni) wird Filbinger-Riggert in der Buchhandlung Wittwer aus ihrem Buch lesen.

Am 25. Juli findet im Rathaus Stuttgart eine Tagung zum Thema „Hans Filbinger, Wyhl und die RAF“ statt. Veranstalter ist die Landeszentrale für politische Bildung. Es diskutieren Herta Däubler-Gmelin, Rezzo Schlauch, Manfred Zach und Susanna Filbinger-Riggert über „Aufbruch und Protest.“