Christian Steiffen unterläuft bei seinem Konzert in Stuttgart die aufgesetzten Heile-Welt-Posen der Schlagerwelt. BHs fliegen auf die Bühne, werden als Schäuztuch benutzt - und wer beim Karaoke versagt, fliegt direkt wieder von der Bühne.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Der Schlager ist im Jahre 2015 so stark wie lange nicht. Helene Fischer hat ihn in einem vergleichsweise breiten Segment der Bevölkerung wieder zur Konsensmusik gemacht, Dieter Thomas Kuhn verkauft seine Konzerte ein Jahr im Voraus aus und im Raum Stuttgart freuen sich alle mit Andrea Berg.

 

Die Fischer hat den Schlager gewissermaßen in die post-volkstümliche Phase geführt; er ist jetzt nur noch maximal anschlussfähiger Pop, dessen einziger Zeitgeistbezug die maximale Oberflächlichkeit von Musik und Texten ist.Udo Jürgens thematisierte mit "Griechischer Wein" wenigstens klischeehaft das Leben der Gastarbeiter in Deutschland. Davon bleiben in unserer Zeit nur noch die ironisch verstandenen Dieter-Thomas-Kuhn-Shows. Das traditionell volkstümliche "Musikantenstadl" ist erledigt und interessiert auch als modernisierte "Stadlshow" nicht mehr genügend Fernsehzuschauer. 

Christian Steiffen ist neben solchen Giganten ein vergleichsweise kleines Licht. Bürgerlich Harry Schwetter, ganz ernsthaft mal OB-Kandidat in Osnabrück und lange Jahre in einer Elvis-Tribute-Band aktiv, erklärte Schwetter sich erst beim katholischen Kirchentag zu Reverend Hardy Hardon und später zum "Gott of Schlager" respektive Christian Steiffen. Als solcher leistet er neben den genannten Schlagerstars tatsächlich Großes: Anders als Dieter Thomas Kuhn bietet er nicht eine große Mitsingshow und die alten Hits anderer Songschreiber, sondern unterläuft den Schlager und seine Posen.

BHs als Schnäuztuch

Zu Songs und Textzeilen wie "Ich hab' die ganze Nacht von mir geträumt" oder "Ein Glück, dass wir nie was miteinander hatten" bietet Steiffen im akkuraten Anzug und bestens sitzender Frisur alles, was Schlager ausmacht: ein aufgesetztes Lächeln, soft instrumentierte Songs, Mitsingmelodien, große Gesten, Handkuss für die Damen in der ersten Reihe und schmachtende Blicke. Dabei zieht er diese Posen, sich oder seine Musik nicht ins Lächerliche, zumindest nicht offensichtlich. Er exponiert sie auch nicht unnötig; vielmehr sind die Songtexte sein einziges, zugleich höchst wirksames Mittel, die Hemmungen und Eitelkeiten des Schlagerbetriebs und damit auch seiner Hörer offenzulegen: "Ich sehne mich so sehr nach Sexualverkehr" - das soll die Fischer mal singen!

Steiffen singt es, bei seinem Konzert im Stuttgarter Club Universum, vor gut 300 Zuschauern. Die meinen das Arme-Schwenken nicht immer ironisch, singen in der Regel aus tiefer Brust mit und machen am Ende kollektiv Polonaise. Sie werfen auch BHs auf die Bühne, die der Sänger mal als Schweiß-, mal als Schnäuztuch verwendet. Steiffen spricht so unterschiedliche Gruppen wie Weihnachtsmarktgänger, "Tele 5"-Zuschauer, "Punkrock"-Fans (die beiden Medien präsentieren, neben anderen, Steiffens Tour) und die Umland-Jugend an; Letztere tritt in Gestalt von Lotte aus dem Nordschwarzwald auf die Bühne, die beim Playback-Singen keine gute Figur macht und von Steiffen direkt wieder zurück ins Publikum geschickt wird.

Man ist sich bei dem fast zweistündigen Auftritt von Steiffen und Dr. Martin Haseland (vom "Original Haseland Orchester") nie endgültig sicher, ob die Musiker ihr Tun selbst als Satire betrachten. Die Songtexte - klar: wenn Steiffen die im Schlager nicht unüblichen schmierigen Liebeserklärungen auf sich selbst wendet, kann man sich vorstellen, dass all die Jürgen Drews' dieser Welt ehrlicherweise auch lieber sagen würden, sie hätten von sich geträumt als von ihrem Publikum. Auch Ansagen wie "Jetzt wird's sommerlich, jetzt kommt ein Calypso" sind dermaßen aus der Zeit gefallen, dass sie kein Mensch unter 60 noch ernsthaft vortragen kann (zumal im näselnden Tonfall des Rekommandeurs, dem die "Süddeutsche Zeitung" einst eine Hymne geschrieben hat). Doch weil Steiffen nicht eine Sekunde aus dieser Rolle fällt, wird die Frage nach der Satire nicht endgültig beantwortet. Andreas Dorau macht das übrigens genauso.

Steiffen kommt aus Osnabrück, in Osnabrück feiert man Karneval. Vielleicht lässt sich sein Konzert am ehesten damit vergleichen: als parodistisches Für-sich-vereinnahmen. Es bringt nichts, den Schlager zu verteufeln. Er ist da, und er ist so stark wie seit Jahren nicht. Christian Steiffens Performance mit ihren subtil eingeschobenen schiefen Tönen hilft, all das Heile-Welt-Gedudel nicht ganz ernst zu nehmen. Das übrigens mit Erfolg: Steiffen hat beim letzten Mal das Zwölfzehn ausverkauft, jetzt vor mehr Leuten im Universum gespielt. Nach seiner Logik können da nur noch folgen: Schleyerhalle, Best-of- und Weihnachtsalbum.

Mehr zum Pop in der Region Stuttgart gibt es bei kopfhoerer.fm - auch auf Facebook.