In der kommenden Woche ziehen die Patienten nach Bad Cannstatt. Zwei Stationen bleiben am Altstandort, wo das Sozialpsychiatrische Zentrum Mitte entsteht.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Es ist eine jener Bemerkungen gewesen, die ein Problem übertrieben darstellen, dieses aber gerade deshalb deutlich erfassen. Solche Zustände, sagte ein Ratsmitglied nach einer Klinikbegehung vor einigen Jahren, habe er „zuletzt in Indien gesehen“. Damit gemeint waren die Verhältnisse in der Psychiatrie des Bürgerhospitals, die räumliche Enge auf den Stationen, fehlende sanitären Anlagen in den Zimmern, die zum Teil mit vier und fünf Patienten belegt waren, für die es keine Rückzugsmöglichkeiten gab.

 

Immer wieder hatten Mitarbeiter und Patienten die Zustände im Zentrum für seelische Gesundheit kritisiert, bis diese wegen des wachsenden Unmuts 2006 auf die Tagesordnung der Kommunalpolitik gekommen sind. Zuletzt stand der Beschluss, den Neubau der Psychiatrie vorzuziehen und am Standort Bad Cannstatt anzusiedeln. Nach zwei Jahren Bauzeit ist es soweit: am Freitag wird das 63,4 Millionen Euro teure Projekt eingeweiht, in der Woche darauf erfolgt der Umzug.

Großer Schritt für die Psychiatrie

Damit macht die Psychiatrie in der Landeshauptstadt einen großen Schritt nach vorn. Die beiden durch Lichthöfe gegliederten Baukörper, die an das bestehende städtischen Krankenhaus in Bad Cannstatt anschließen, sind großzügig gestaltet, die Zimmer hell, die Flure breit angelegt. Der Neubau bietet Platz für 238 Betten in der Erwachsenenpsychiatrie, dazu für 24 Betten und tagesklinische Plätze der Kinder- und Jugendpsychiatrie (deren Hauptstandort in der Hasenbergsteige im Westen bleibt) sowie für 32 Plätze der Schule für Kranke und 20 Plätze der suchtmedizinischen Rehaeinrichtung Wendepunkt.

Standort Bürgerhospital bleibt mit zwei Stationen erhalten

Mit dem Neubau sind die räumlichen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der städtischen Psychiatrie geschaffen. Das Konzept des Ärztlichen Direktors im Zentrum für seelische Gesundheit, Martin Bürgy, wird aber erst deutlich, wenn man weiß, dass zwei Stationen mit insgesamt 38 Betten nicht nach Bad Cannstatt umziehen, sondern am Standort Bürgerhospital bleiben. Sie bilden das neue Sozialpsychiatrische Zentrum Mitte, das in enger Verbindung mit den insgesamt acht in der Stadt verteilten und unter anderem von Caritas und Evangelischer Gesellschaft getragenen gemeindepsychiatrischen Einrichtungen arbeiten soll. Hier werden insbesondere Patienten betreut, die an chronischen psychischen Erkrankungen des schizophrenen Typus leiden. Das Ziel der neuen Einrichtung: durch eine wirkungsvolle kurzzeitige Krisenintervention und die enge Verzahnung von ärztlicher Versorgung und Sozialarbeit sollen Klinikaufenthalte der Betroffenen verkürzt oder gar vermieden werden.

„Wir sollten soviel ambulant behandeln, wie möglich.“

„Wir müssen die Menschen aus der Drehtür herausbringen und dort lassen, wo sie hingehören: in der Gemeinde“, sagt Martin Bürgy. „Wir sollten soviel ambulant behandeln, wie möglich.“ Die Neuerung ist Teil eines Prozesses, den der Ärztliche Direktor der Psychiatrie seit seiner Amtsübernahme Ende des Jahres 2008 fördert. So hat Bürgy die Stationen stärker nach Krankheitsbildern wie der Depression differenziert und etwa durch die Verminderung der Zahl der Akutstationen auch stärker spezialisiert. Zudem hat der Chef der Psychiatrie in den vergangenen Jahren die psychotherapeutische Behandlung der Patienten ausgebaut und stärker auf den einzelnen Stationen verankert, als dies zuvor der Fall gewesen ist.

Umstrukturierung soll Überbelegung angehen

Durch die Bildung des neuen Zentrums für Sozialpsychiatrie am Altstandort will man mit einer Kombination von stationären, tagesklinischen und ambulanten Angeboten die Verweildauer dieser psychisch schwer kranken Menschen in der Klinik vermindern. Dadurch sollen in Bad Cannstatt Bettenkapazitäten frei werden für die wachsende Zahl von Patienten, die etwa an affektiven oder bipolaren Störungen wie Depression oder manisch-depressiver Erkrankung leiden, aber auch an „Zivilisationsproblemen“ wie Ess- und Adoleszenzstörungen. Mit der Umstrukturierung geht man das Problem der tendenziellen Überbelegung der Psychiatrie an, das immer wieder dazu geführt hat, dass zeitweise selbst auf den Fluren Patientenbetten standen. „Der Druck von den Betten muss runter“, sagt Martin Bürgy. Die Belegung der Stationen liege „zum Teil deutlich über 90 Prozent“, erklärt der Ökonomische Leiter des Zentrums, Volkert Weiss.

Personalfluktuation hat zu Problemen geführt

Ein so anspruchsvoller und, so Bürgy, „längst überfälliger“ Wandel lässt sich in der Theorie allerdings leichter entwerfen als in der Praxis vollziehen. Nach dem Amtsantritt des Ärztlichen Direktors setzte eine Personalfluktuation bei den Fachärzten ein, wie sie in einer solchen Situation zwar nicht ganz ungewöhnlich ist, in diesem Ausmaß im Klinikalltag aber doch zu Problemen geführt hat. Nach mehreren Zwischenfällen, bei denen einmal durch ein Gerangel mit einem unzureichend behandelten Patienten sogar mehrere Pflegekräfte verletzt wurden, wurde die Kritik des Personals immer lauter.

„Der Prozess hat geholpert“, räumt Bürgy ein, jetzt mit dem Gefühl, dass die größten Konflikte inzwischen ausgestanden sind. So gibt es nun einen regelmäßigen Dialog mit der Personalvertretung. Die 52 Arztstellen sind wieder weitgehend besetzt, der Pflegebereich komplett. „Zeigen sie mir eine Psychiatrie, wo das so ist“, sagt der Zentrumsleiter selbstbewusst. Zwei Indikatoren hält der 49-Jährige für besonders bemerkenswert: einen Privatpatientenanteil von 15 bis 20 Prozent, was weit über dem Schnitt von Psychiatrien liege; und im Vorjahr habe es keinen Suizid gegeben in der Klinik, ein so erfreulicher wie auch ungewöhnlicher Umstand.

Positiver Schub erwartet

Martin Bürgy geht davon aus, dass der Umzug in den Neubau allen Beteiligten einen positiven Schub geben wird. Den wird man für die weitere Entwicklung gut brauchen können. Die anstehenden Aufgaben sind beträchtlich. Zwar hat man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wegen der steigenden Zahl junger Menschen mit psychischen Problemen 20 zusätzliche Betten vom Land zugestanden bekommen. Durch die Alterung der Gesellschaft zeichnet sich aber seit einiger Zeit eine Überlastung in der Gerontopsychiatrie ab, wo die Zahl der schwierigen Fälle zunimmt.

Und die weitere Förderung der gemeindenahen Betreuung von Patienten, die chronisch an schweren psychischen Erkrankungen leiden (Fachjargon: Enthospitalisierung), ist anspruchsvoll und wird einen langen Atem brauchen. Martin Bürgy ist sich bewusst, dass es etliche Jahre dauert, bis die Betroffenen beim Übergang von den Langzeitbereichen der Kliniken in gemeindepsychiatrische Betreuungsformen wieder ihre vorherige Lebenszufriedenheit erreichen. „Das sind lange Prozesse, bis die Menschen aus dem beschützten Raum wieder ihren Ort in der Gemeinde finden.“