Wie einst die Fanta Vier und Max Herre zieht es jetzt etliche junge Stuttgarter Musiker nach Berlin oder öfters auch Leipzig. Wir haben nachgefragt: Was ist der Grund für die zweite große popmusikalische Abwanderungswelle? 

Stuttgart - Nein, von einem neuen Trend kann man hier nun wirklich nicht sprechen. Schon Mitte der Neunziger kehrten Die Fantastischen Vier dem Kessel den Rücken, um ihr Reimglück in Berlin zu suchen. Wie viele Schwaben folgten und den Prenzlauer Berg okkupierten, ist ein offenes Geheimnis, hielt in der Folge aber auch Rapper wie Max Herre, DJ Thomilla oder (BILD-Tonfall) „Berlin-Rap-Erfinder“ Marcus Staiger nicht ab, gen Hauptstadt abzuwandern.

 

 

Mathias Bloech (Heisskalt): "Man geht doch, weil man weiter will."

 

Mit anderen Worten: Wir Stuttgarter sind es gewöhnt, dass wir Bands und Künstler groß machen und sie dann doch verlieren. Gründe hat dafür jeder ganz eigene, hier leben muss natürlich sowieso niemand. Dennoch ist in letzter Zeit eine weitere bedenkliche Welle zu beobachten, die talentierte Köpfe wie mit einer unsichtbaren Sogwirkung aus der Stadt saugt. Schon vor einiger Zeit hat Mathias Bloech seiner alten Heimat den Rücken gekehrt. Der Heisskalt-Sänger wohnt mittlerweile in Leipzig. Und denkt gar nicht daran, nach Stuttgart zurückzukehren. „Ich bin in Herrenberg geboren und habe 27 Jahre lang im Südwesten gelebt. Ich kann dort nichts Neues mehr lernen. Und Zurückgehen ist doch auch eigentlich keine Option! Man geht doch, weil man weiter will. Und wenn ich in Leipzig nicht glücklich werde, liegt das wahrscheinlich nicht daran, dass ich aus Stuttgart weggegangen bin“, meint er. „Dann muss ich woanders weiter suchen.“

 

Dass er überhaupt weggegangen ist und sich im Leipziger Osten niedergelassen hat, war keine Impulsentscheidung, wie er sich erinnert. „Ich habe 2015 mein Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst beendet und sah zum ersten Mal überhaupt die wirkliche Möglichkeit, den Ort zu wechseln. Ich sah in Leipzig einen neuen, unbeschriebenen Ort, an dem dem ich die Miete bezahlen und in Ruhe arbeiten könnte.“ Jetzt werkelt er in Leipzig mit einem Freund an einem Live-Elektro-Projekt, während seine Heisskalt-Kollegen weiterhin in Stuttgart wohnen. „Es nervt natürlich manchmal schon, nicht einfach den Flur runter zu gehen und bei Marius (Schlagzeuger Marius Bornmann) zu klopfen, außerdem sind manche Entscheidungen schwieriger. Aber man verliert sich auch nicht so leicht in der Diskussion um jede Kleinigkeit.“ Mit einer Freundin in Berlin, den vielen Seen in der Umgebung, und der, für ihn, schönen Tatsache, dass Raves in Leipzig seltener abgebrochen werden, wirkt er ganz und gar angekommen - er mag sogar sächsisch.

 

Jan Rumpela (Karies): "Weniger Einwohner, weniger Baustelle."

 

Karies-Gitarrist Jan Rumpela ist auch weg. Längst schrubbt er seine kargen, destruktiven Noise-Rock-Akkorde nicht mehr in einer Stuttgarter Wohnung vor sich hin, hat sich in Osnabrück niedergelassen. Stuttgart verließ er damals aber dennoch für Berlin. „Diese Stadt hatte damals mehr Angebote für meine persönliche Entwicklung parat“, meint er dazu. Auch er ist regelmäßig in der Stadt, um zu proben oder aufzunehmen, vermisst allerdings nicht allzu viel. „Osnabrück hat weniger Einwohner, weniger Baustelle“, stellt er trocken fest. „Durch Eigeninitiative scheint mir hier mehr möglich zu sein.“

 

Johannes Stabel (XTR Human): "In Stuttgart hatte ich oft das Gefühl, die Zeit stehe still."

 

Die Baustellen sind es auch, die Johannes Stabel mit Gusto hinter sich gelassen hat. Der Sänger der Post-Punks XTR Human schließt eine Rückkehr nach Stuttgart nicht aus, knüpft sie aber an gewisse Bedingungen: „Das passiert nicht, bevor die Stuttgart-21-Baustellen weg sind.“ Mittlerweile wohnt er in Berlin-Kreuzberg, angelockt wurde er vom Reiz des Neuen. „In Stuttgart hatte ich oft das Gefühl, die Zeit stehe still“, gesteht er. „Die Stadt hat ein neurotisches Verhältnis zur eigenen Subkultur: Künstler müssen sich erst außerhalb beweisen, bevor sie zuhause überhaupt wahrgenommen werden. Kein Wunder, dass – mal abgesehen vom Mainstream – Stuttgarter Bands eher für ihren rauen Sound und klares Profil bekannt sind. Dieser stetige Kampf ist auf Dauer aber auch sehr ermüdend. In Berlin“, stellt er zufrieden fest, „geht alles etwas entspannter zu.“

 

Großer Vorteil für ihn: XTR Human haben sich einfach komplett in Berlin niedergelassen und genießen „die große Bandbreite an kulturellen Einflüssen“ hörbar. „Die Stadt ist wirklich extrem vital. Man lernt die interessantesten Leute kennen.“

 

Moritz Esyot (DJ): "Ich fühle mich im Moment hier besser aufgehoben."

 

Den DJ Moritz Esyot zum Beispiel. Nach einem Zwischenstopp in Mainz ist auch er in Berlin gelandet. Der Liebe wegen. „Ich will Berlin nicht mit Stuttgart vergleichen“, gibt er sich versöhnlich. „Ich mag beide Städte. In Berlin fühle ich mich im Moment einfach besser aufgehoben. Allerdings ist es schwer, hier an gute Brezeln zu kommen.“ In Stuttgart kennt man den DJ vor allem durch seine Reihe Recommended, die er mit Herrn Bauer initiiert hat. Und sie am Leben hält: „Bald wird es wieder ein gemeinsames Recommended-Event von uns in Stuttgart geben“, verspricht er schon mal.

 

Dominik Gerwald (Ex-Yasmine-Tourist): "Ich kann auch nach 22 Uhr Alkohol und Katzenstreu kaufen."

 

Dominik Gerwald, ehemals ein Teil der 2014 aufgelösten Yasmine Tourist und heute solo unterwegs, vergleicht Kreuzberg mal so eben mit Stuttgart-Süd – „mit dem Unterschied, dass man auch nach 22 Uhr noch Alkohol und Katzenstreu kaufen kann. Was geil ist.“ Neben einigen Freunden fehlt ihm besonders das Café Weiß, aus der Stadt getrieben hat ihn letztlich aber kein Koller oder Frust, sondern ein Jobangebot für eine Stelle als Grafikdesigner.

 

Vom Neckar an die Spree bedeutete für ihn dennoch keinen Kulturschock: „Ich habe jahrelang in eher ländlicher und kleinstädtischer Umgebung gewohnt. Das ist nichts für mich. Ich habe mich hier in Berlin immer äußerst wohl gefühlt, wohler als in allen mir bekannten deutschen Städten.“ Gerwald zufolge hat Berlin Stuttgart gegenüber zwei entscheidende Vorteile: „Es ist fast überall topfeben. Wenn man, wie ich, gern, viel und weite Strecken zu Fuß geht und zuletzt aus Tübingen kommt, ist das ein wahrer Segen. Und es kommen fast alle internationalen Künstler hier durch, die man sich wünschen kann. Wenn sie nicht ohnehin hier leben.“ Und der raue Umgangston? „Stört mich nicht.“

 

Max Rieger (Die Nerven): "Ich wollte einen Raum, in dem ich uneingeschränkt arbeiten kann."

 

Wie Mathias Bloech hat sich auch Max Rieger in Leipzig niedergelassen. Der umtriebige Stuttgarter Künstler, der mit Die Nerven und All diese Gewalt Stuttgarter Musikgeschichte schrieb und schreibt und nebenher zahlreiche Bands produziert, hinterlässt eine Lücke, die ohne weiteres nicht zu schließen sein wird. Dennoch ging es nicht anders, erklärt er: „Ich hatte die Sorge, dass ich den Absprung aus der Stadt nicht schaffe. Ein unaushaltbarer Gedanke für mich.“

 

Dass er letztlich in Leipzig landete, war ein Zufall – ein Zufall mit angenehmem Nebeneffekt. „Ich habe jetzt ein Studio, das ich ausbauen und erweitern möchte. Ich wollte endlich einen Raum haben, in dem ich uneingeschränkt arbeiten kann. In Stuttgart ist es annähernd unmöglich, so etwas zu finden, wenn man nicht bereit ist, mindestens 500 Euro auf den Tisch zu legen.“ Dass wir in einer teuren Stadt leben, ist nichts Neues. Dass Max regelmäßig von Leipzig nach Stuttgart pendelt und am Ende immer noch billiger dran ist, schon. „Leider wahr“, meint er schulterzuckend, möchte aber nichts verteufeln. „Stuttgart ist Stuttgart. Leipzig ist Leipzig. Beides hat herzlich wenig miteinander zu tun“, meint er. „Ich schätze Stuttgart sogar ein bisschen mehr, seitdem ich nicht mehr dort wohne.“ Ob er in Leipzig bleibt? Max Rieger weiß es nicht. Nur eines scheint für ihn festzustehen. Er lächelt. „In zwanzig Jahren kaufe ich mir eine Villa in Nürtingen.“

 

Alle sind das natürlich nicht, auch Booker wie Andreas „Pese“ Puscher oder erst kürzlich Manuel Klink haben Berlin als neuen Lebensmittelpunkt auserkoren. Gründe für den Weggang gibt es eben viele. Dennoch ist auffällig, wie viele Künstler die Stadt aus finanziellen Gründen die Stadt verlassen, wie viele keinen Bock mehr auf die Baustellen haben, auf den ewigen Kampf der Subkultur um Räume.

 

Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Bands immer wieder Stuttgart zu ihrer neuen Heimat machen. Eau Rouge etwa, die ursprünglich aus Schwäbisch Gmünd stammen. Oder die dauerdurstigen Schmutzkis, die den Bodensee zugunsten Stuttgarts verlassen haben. Anderswo ist eben auch nicht alles besser.